Zur Phänomenologie u. Morphologie d. path. Wahrnehmungatäuschungen. 515
assimilierenden subjektiven Elemente bei den verschiedenen
Menschen nach Zahl und Qualität unermeßlich verschieden
sind, die Zuschauer im Theater alle das Gleiche sehen, nämlich die-
selbe Landschaft. Daß sie das tun, ist in der Beschaffenheit ihrer
Sehinhalte begründet, und diese sind bei allen gleich oder nahezu
gleich, weil ihr dioptrischer Apparat nahezu der gleiche ist. Die
Farbkleckse erscheinen ihnen allen als das Bild einer Landschaft aus
einem gleichen Grunde, aus dem die Sonne in ihrer wirklichen Be-
schaffenheit, wie sie die Physik bestimmt hat, uns allen als eine
kleine harmlose, lichtspendende Scheibe erscheint. Könnten wir zur
Sonne fliegen und in eigener Anschauung wahrnehmen, was wirklich
da ist, wir würden wahrscheinlich voller Grausen und enttäuscht zu-
rückkehren und uns fragen, wie es nur möglich ist, daß das kleine
harmlose, freundliche Ding da oben am Himmel, wie wir es alle
Tage gesehen haben, in Wirklichkeit so ganz anders sein kann. Die
Inkongruenz zwischen dem, was wirklich da ist und als das es wahr-
genommen werden könnte, wenn unser Auge anders gebaut wäre
und wir nicht Millionen Kilometer von ihm entfernt wären, und dem,
als was wir es sehen, würde wahrscheinlich nicht geringer sein als
die zwischen den rohen Farbklecksen auf der Leinwand und dem Bild
einer Landschaft, als welches sie erscheinen. Und doch hat es auch
hier bei dem Sehen der Sonne keinen Sinn, von einer Täuschung
im Sinn einer Illusion zu sprechen. Wir dürfen also, wie ich das
früher schon kurz angedeutet habe, wirklich sagen, im Falle des
»Hineinsehens« einer Landschaft in das auf der Leinwand Befind-
liche verändert sich der Sehinhalt mit der Entfernung. Und in Ab-
hängigkeit von den sich verändernden Sehinhalten, durch sie fun-
diert, nehme ich in großer Entfernung eine Landschaft, in kleiner
Entfernung Farbkleckse wahr. Das Wahrgenommene baut sich also
rein auf den Inhalten auf, und es wird hier nichts in die Sehinhalte
»hineingesehen« '.
1 Im übrigen tauchen bei der Wahrnehmung dessen, was auf der Bühne
dargestellt wird, wenn z. B. der Schauspieler den Hamlet darstellt, eine ganze
Reihe neuer Fragen auf, welche das Darstellen als solches, die Weise der Ge-
gebenheit des Dargestellten für den Zuschauer, die Wahrnehmung des Fremd-
psychischen usw. angehen. Aber solche Fragen, die bekanntlich den Ästhetikern
schon recht arge Kopfschmerzen bereitet haben, müssen von den oben behandelten
gesondert werden und gehören nicht in unseren Zusammenhang.
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assimilierenden subjektiven Elemente bei den verschiedenen
Menschen nach Zahl und Qualität unermeßlich verschieden
sind, die Zuschauer im Theater alle das Gleiche sehen, nämlich die-
selbe Landschaft. Daß sie das tun, ist in der Beschaffenheit ihrer
Sehinhalte begründet, und diese sind bei allen gleich oder nahezu
gleich, weil ihr dioptrischer Apparat nahezu der gleiche ist. Die
Farbkleckse erscheinen ihnen allen als das Bild einer Landschaft aus
einem gleichen Grunde, aus dem die Sonne in ihrer wirklichen Be-
schaffenheit, wie sie die Physik bestimmt hat, uns allen als eine
kleine harmlose, lichtspendende Scheibe erscheint. Könnten wir zur
Sonne fliegen und in eigener Anschauung wahrnehmen, was wirklich
da ist, wir würden wahrscheinlich voller Grausen und enttäuscht zu-
rückkehren und uns fragen, wie es nur möglich ist, daß das kleine
harmlose, freundliche Ding da oben am Himmel, wie wir es alle
Tage gesehen haben, in Wirklichkeit so ganz anders sein kann. Die
Inkongruenz zwischen dem, was wirklich da ist und als das es wahr-
genommen werden könnte, wenn unser Auge anders gebaut wäre
und wir nicht Millionen Kilometer von ihm entfernt wären, und dem,
als was wir es sehen, würde wahrscheinlich nicht geringer sein als
die zwischen den rohen Farbklecksen auf der Leinwand und dem Bild
einer Landschaft, als welches sie erscheinen. Und doch hat es auch
hier bei dem Sehen der Sonne keinen Sinn, von einer Täuschung
im Sinn einer Illusion zu sprechen. Wir dürfen also, wie ich das
früher schon kurz angedeutet habe, wirklich sagen, im Falle des
»Hineinsehens« einer Landschaft in das auf der Leinwand Befind-
liche verändert sich der Sehinhalt mit der Entfernung. Und in Ab-
hängigkeit von den sich verändernden Sehinhalten, durch sie fun-
diert, nehme ich in großer Entfernung eine Landschaft, in kleiner
Entfernung Farbkleckse wahr. Das Wahrgenommene baut sich also
rein auf den Inhalten auf, und es wird hier nichts in die Sehinhalte
»hineingesehen« '.
1 Im übrigen tauchen bei der Wahrnehmung dessen, was auf der Bühne
dargestellt wird, wenn z. B. der Schauspieler den Hamlet darstellt, eine ganze
Reihe neuer Fragen auf, welche das Darstellen als solches, die Weise der Ge-
gebenheit des Dargestellten für den Zuschauer, die Wahrnehmung des Fremd-
psychischen usw. angehen. Aber solche Fragen, die bekanntlich den Ästhetikern
schon recht arge Kopfschmerzen bereitet haben, müssen von den oben behandelten
gesondert werden und gehören nicht in unseren Zusammenhang.
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