Versuch zu einer Darstellung u. Kritik der FitEUDschen Neurosenlehre. 241
möglich ist. Prinzipiell liegt die Bedeutung der Arbeit über ihre
einzelnen Aufstellungen hinaus darin, daß sie einen ersten. charak-
terologischen Versuch in psychoanalytischer Betrachtungsweise dar-
stellt. In der herkömmlichen charakterologischen Auffassung bilden
die Charaktereigenschaften ein mehrdimensionales (oft nach Gegen-
satzpaaren geordnetes) Variationsbereich, innerhalb deren Dimen-
sionen einer jeden Person eine individuelle Bestimmung zukommt,
die eben ihre Charakterisierung ausmacht. Und wir wissen nun gar
nichts darüber, ob diese Bestimmungen in den verschiedenen Dimen-
sionen relativ voneinander unabhängig sind oder in Abhängigkeits-
beziehungen stehen. In der psychoanalytischen Charakterologie wer-
den die Charaktereigenschaften des entwickelten Individuums in
Beziehung gesetzt zu seinen infantilen Eigenschaften, das Individuum
wird stets in seiner biologischen Entwicklung gesehen, es werden
Eigenschaften von ganz verschiedenem Niveau in einen Entwick-
lungszusammenhang gebracht, und verschiedene Eigenschaften des
entwickelten Individuums scheinen jetzt nicht mehr unabhängig von-
einander, sondern dadurch in Beziehung gebracht, daß sie auf eine
gemeinsame infantile Wurzel bezogen sind. Was die Verbindung
herstellt zwischen den infantilen und den entwickelten Charakter-
eigenschaften, sind die bekannten Entwicklungsprozesse, wie Subli-
mierung usw. Freud sagt hierüber prinzipiell: »Für die Bildung
des endgültigen Charakters aus den konstitutiven Trieben läßt sich
eine Formel angeben: die bleibenden Charakterzüge sind entweder
unveränderte Fortsetzungen der ursprünglichen Triebe, Sublimierungen
derselben oder Keaktionsbildungen gegen dieselben.« Bliebe zu dis-
kutieren, ob sich mit diesen vieldeutigen Verbindungsgliedern nicht
zwischen nahezu allen möglichen Eigenschaften Beziehungen her-
stellen lassen.
32. [Die »kulturelle« Sexualmoral und die moderne Nervosität.
Sexualprobleme IV, 19081.] — In diesem kulturpolitischen Aufsatze
behandelt Freud die herrschende Sexualmoral unter dem Gesichts-
punkte der sexuellen Ätiologie der Neurosen und bespricht alle die
verschiedenen nervösen Schädigungen, zu denen die kulturellen
Sexualschranken nach seiner Ansicht führen können. Insbesondere
i Wiederabgedruckt in Kl. Sehr. H, 175 ff.
möglich ist. Prinzipiell liegt die Bedeutung der Arbeit über ihre
einzelnen Aufstellungen hinaus darin, daß sie einen ersten. charak-
terologischen Versuch in psychoanalytischer Betrachtungsweise dar-
stellt. In der herkömmlichen charakterologischen Auffassung bilden
die Charaktereigenschaften ein mehrdimensionales (oft nach Gegen-
satzpaaren geordnetes) Variationsbereich, innerhalb deren Dimen-
sionen einer jeden Person eine individuelle Bestimmung zukommt,
die eben ihre Charakterisierung ausmacht. Und wir wissen nun gar
nichts darüber, ob diese Bestimmungen in den verschiedenen Dimen-
sionen relativ voneinander unabhängig sind oder in Abhängigkeits-
beziehungen stehen. In der psychoanalytischen Charakterologie wer-
den die Charaktereigenschaften des entwickelten Individuums in
Beziehung gesetzt zu seinen infantilen Eigenschaften, das Individuum
wird stets in seiner biologischen Entwicklung gesehen, es werden
Eigenschaften von ganz verschiedenem Niveau in einen Entwick-
lungszusammenhang gebracht, und verschiedene Eigenschaften des
entwickelten Individuums scheinen jetzt nicht mehr unabhängig von-
einander, sondern dadurch in Beziehung gebracht, daß sie auf eine
gemeinsame infantile Wurzel bezogen sind. Was die Verbindung
herstellt zwischen den infantilen und den entwickelten Charakter-
eigenschaften, sind die bekannten Entwicklungsprozesse, wie Subli-
mierung usw. Freud sagt hierüber prinzipiell: »Für die Bildung
des endgültigen Charakters aus den konstitutiven Trieben läßt sich
eine Formel angeben: die bleibenden Charakterzüge sind entweder
unveränderte Fortsetzungen der ursprünglichen Triebe, Sublimierungen
derselben oder Keaktionsbildungen gegen dieselben.« Bliebe zu dis-
kutieren, ob sich mit diesen vieldeutigen Verbindungsgliedern nicht
zwischen nahezu allen möglichen Eigenschaften Beziehungen her-
stellen lassen.
32. [Die »kulturelle« Sexualmoral und die moderne Nervosität.
Sexualprobleme IV, 19081.] — In diesem kulturpolitischen Aufsatze
behandelt Freud die herrschende Sexualmoral unter dem Gesichts-
punkte der sexuellen Ätiologie der Neurosen und bespricht alle die
verschiedenen nervösen Schädigungen, zu denen die kulturellen
Sexualschranken nach seiner Ansicht führen können. Insbesondere
i Wiederabgedruckt in Kl. Sehr. H, 175 ff.