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Zeitschrift für Pathopsychologie — Leipzig und Berlin, 2.1913 - 1914

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Drittes Heft
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https://doi.org/10.11588/diglit.2778#0450
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446 Kuno Mittenzwey

Konflikt gab ihm Gelegenheit, sich mit dem Vater zu identifizieren;
dieser hatte nämlich seiner Zeit in einer gleichen Situation einem
reichen Mädchen den Vorzug gegeben. »Und diesen Konflikt, der
eigentlich ein solcher zwischen seiner Liebe und dem fortwirkenden
Willen des Vaters war, löste der Patient durch Erkrankung, richtiger
gesagt: er entzog sich durch die Erkrankung der Aufgabe, ihn in
der Realität zu lösen. Es ist hervorzuheben, daß die Flucht in die
Krankheit ihm durch die Identifizierung mit dem Vater ermöglicht
wurde. Diese gestattete ihm die Regression der Affekte auf die
Kindheitsreste.«

Diese Krankheitsveranlassung wurde nun aber nicht etwa durch
psychoanalytische Erforschung aus dem Unbewußten zutage gefordert,
wie man nach der ätiologischen Grundansicht erwarten dürfte, sondern
sie stand dem bewußten Gedächtnis des Kranken durchaus zur Ver-
fügung. Wir erfahren bei dieser Gelegenheit von einem neuen Unter-
schied zwischen Zwangsneurose und Hysterie. »Bei Hysterie ist es
Regel, daß die rezenten Anlässe der Erkrankung der Amnesie ebenso
verfallen wie die infantilen Erlebnisse, mit deren Hilfe jene ihre
Affektenergie in Symptome umsetzen. . . Anders ist es in der Regel
bei der Zwangsneurose. Die infantilen Voraussetzungen mögen
einer — oft nur unvollständigen — Amnesie verfallen sein; die
rezenten Anlässe der Erkrankung finden sich dagegen im Gedächtnis
erhalten. Die Verdrängung hat sich hier eines anderen, eigentlich
einfacheren Mechanismus bedient; anstatt das Trauma zu vergessen,
hat sie ihm die Affektbesetzung entzogen. . . Der Unterschied liegt im
psychischen Geschehen, das wir hinter den Phänomenen konstruieren
dürfen; der Erfolg des Vorganges ist fast der nämliche, denn der
indifferente Erinnerungsinhalt wird nur selten reproduziert und spielt
in der Gedankentätigkeit der Person keine Rolle.« Man übersieht
sofort, welche praktische Konsequenz für die Handhabung der Analyse
aus dieser Theorie der Affektverschiebung folgt. »Es ist kein seltenes
Vorkommnis, daß Zwangskranke, die an Selbstvorwürfen leiden und
ihre Affekte an falsche Veranlassungen geknüpft haben, dem Arzt
auch von den richtigen Mitteilung machen, ohne zu ahnen, daß ihre
Vorwürfe nur von diesen letzteren abgetrennt worden sind. Sie
äußern dabei gelegentlich verwundert oder selbst wie prahlerisch:
daraus mache ich mir aber gar nichts.«
 
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