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Zeitschrift für Pathopsychologie — Leipzig und Berlin, 2.1913 - 1914

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Viertes Heft
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https://doi.org/10.11588/diglit.2778#0634
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630 Kuno Mittenzwey

Umfang zielstrebig gerichtet ist. Soweit nun diese Realbedeu-
tung reicht, ist den von Adler angegebenen teleologischen Kate-
gorien sicherlich eine hervorragende deskriptive Bedeutung für die
Erfassung des neurotischen Geschehens zuzuerkennen. Es ist gewiß,
daß das Verhalten und die Handlungen des Neurotikers bei aller
anscheinenden Sinnlosigkeit sich sehr häufig recht sinnvoll ordnen
nicht nur in dem FsEUDschen Sinne, daß sie um zurückliegende
Reminiszenzen und Phantasien kreisen, sondern vielmehr so, daß sie
auf ein ganz gewisses, hartnäckig festgehaltenes Ziel lossteuern.
Diese geheime Finalität findet sich ebenso gewiß wie die von Adler
angegebene Modifikation des Selbstwertgefühls des Neurotikers; nur
wenn man diese Erscheinungen zu erklärenden Prinzipien ausdehnen
will, verführen sie zu Vergewaltigungen.

Die Hauptwirkung Adlers besteht jedoch darin, daß er die Enge
des FREüDschen_Sßiualismus überwunden hat. Indem er in lehr-
reichen Gegenüberstellungen zeigte, wie sich derselbe klinische Fall
von den beiden verschiedenen Betrachtungsweisen aus verschieden
auffassen läßt, hat er weiten Kreisen die Augen darüber geöffnet,
daß viele Zusammenhänge, die bereits für »empirisch bewiesene«
Ätiologie gehalten wurden, lediglich durch die Art der Betrachtungs-
weise als ätiologische Zusammenhänge erscheinen, während ihnen
ebensogut eine andere Bedeutung zugeschrieben werden kann. Spe-
ziell für die Auffassung des Traumes hat er dargetan, daß dessen
infantile Bestandteile auch eine andere Auffassung zulassen, und
hat als erster aufgestellt, daß auch Inhalte, die in der Zukunft liegen,
probeweise Losungen bevorstehender Konflikte usw., den Träumen-
den beschäftigen können.

4. In umgekehrter Richtung hat neuerdings JüNG den Dualismus
zwischen Libido und Ichtrieben zu überwinden versucht. Er dehnt
den Begriff der Libido soweit, daß er die Ichtriebe mit hineinnimmt,
wodurch schließlich der Begriff der Libido zu einem rein funktionellen
wird und alle inhaltlichen Merkmale verliert. Jung neigt schon
lange zu dieser Anschauung, schon 1909 schreibt er in einer An-
merkung ganz schlankweg und apodiktisch: »Libido ist das, was die
älteren Psychiater , Wollen' und ,Streben' nannten. Der FREUDsche
Ausdruck ist eine denominatio a potiori'.« Erst in letzter Zeit bat

1 Jahrbuch f. psychoanalyt. u. psychopathol. Forschungen I, S. 166 Anm.
 
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