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Zeitschrift für Pathopsychologie — Leipzig und Berlin, 2.1913 - 1914

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Viertes Heft
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https://doi.org/10.11588/diglit.2778#0653
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Versuch zu einer Darstellung u. Kritik der FßEUDschen Neurosenlehre. 649

Im Einklang damit versichert Jung, daß »das Denken dynamisch aus
der Libido abstammt, welche an der ,Inzestschranke' vom ursprüng-
lichen Objekt abgespalten wurde«1. Wenn man sich erinnert, welche
Analyse wir oben von jenem »Lustprinzip« gaben, so wird man un-
gefähr verstehen, wenn wir sagen: Inzestverbot in Jungschem Sinne
ist der Inbegriff alles dessen, durch das das Tun über das bloße
Gelüsten hinausgeführt werden soll, durch das das Gelüsten verwehrt
und das Tun zur Identifikation des Ich mit dem Handlungsziel er-
hoben werden soll. Da das »Inzestverbot« faktisch in dieser Weite
gefaßt wird, so ist es möglich, sämtliche Erziehungsgebote, ja sogar
gewisse ethische Lehren des Christentums zu ihm in eine Beziehung
zu bringen. Wir werden uns darum nicht weiter wundern, wenn
das Inzestverbot mit dem »Zwang zur Domestikation« identifiziert
wird2; mit mehr moralistischer Wendung verpönt es dann wieder
die Trägheit, »diese gefährliche, dem primitiven Menschen vor
allen anderen zukommende Leidenschaft«, die »unter der bedenk-
lichen Maske der Inzestsymbole erscheint«s. Dann ist auch keine
Grenze mehr, warum Jung nicht sagen soll, daß »die Predigt Christi
mit Rücksichtslosigkeit den Menschen von seiner Familie trennen
möchte«, und daß im Nikodemusgespräch Christus die besondere
Bemühung mache, »der Inzestlibido Betätigung zu verschaffen«4,
denn er belehrt den Nikodemus: »Du sollst an deinen inzestuösen
Wunsch der Wiedergeburt denken, jedoch sollst du denken, du
werdest aus dem Wasser, durch den Windhauch gezeugt, wieder-
geboren und so des ewigen Lebens teilhaftig werden «5. So ist das

1 IV, S. 444. Da die Seele »ganz nur Libido« ist, so erwächst für Jung
das Problem, die Entstehung des Geistes zu erklären. Mit welcher Harmlosig-
keit er die Geburt des Geistes aus der Libido schildert, dafür lese man folgende
Stelle: »Das_Hindernis desInzestverbotes macht die Phantasiei erfinderisch, z. B.
wird versucht, durch Befruchtungszauber die Mutter schwanger zu machen (An-
wünschen eines Kindes). Versuche in dieser Hinsicht bleiben natürlich im Sta-
dium mythischer Phantasien stecken. Einen Erfolg aber haben sie, und das
ist die TThnng dp,r Phantasie, welche allmählich eben durch die Schaffung von
phantastischen Möglichkeiten Bahnen herstellt, auf denen die Libido sich be-
tätigend abfließen kann. So wird die Libido auf unmerkliche Weise
geistig. Die Kraft,,die stets das Böse will', schafft bo geistiges Leben.« IV, 268.
(Die Sperrung rührt nicht etwa vom Keferenten, sondern von Jung selbst, der
damit wohl andeutet, daß er dem Satz besonderen Inhalt beimißt.)

2 IV, 315. 3 iv, 219. * IV, 439. 5 iy, 270.
 
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