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Zeitschrift für Pathopsychologie — Leipzig und Berlin, 2.1913 - 1914

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Erstes Heft
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https://doi.org/10.11588/diglit.2778#0007
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Zur Phänomenologie u. Morphologie d. path. "Wahrnehmungstäuschungen. 3

entferne — handelt es sich bei den Halluzinationen um durch und
durch pathologische Phänomene, die nur der Kranke erfahren kann,
um Phänomene, die ihre eigene Struktur und eigene Gesetz-
mäßigkeithaben, wodurch sie sich von jeder normalen Wahrnehmung
und auch von jeder normalen Wahrnehmungstäuschung unterscheiden.
Dies scheinbar selbstverständliche muß gesagt werden, weil gerade
da, wo es sich um die natürliche Wahrnehmung und die Wahr-
nehmungstäuschung handelt, sich immer noch das irreführende Be-
streben zeigt, das Normale in Analogie zu dem Anormalen zu setzen,
es zu begreifen als einen nur besonderen Fall derselben Gesetz-
mäßigkeit, die im Anormalen herrscht, wie das Taine tat, wenn er
die normale Sinneswahrnehmung als wahre Halluzination faßte, oder
wie das Psychologen der Gegenwart tun, wenn sie die Eigenstruktur
der Halluzination übersehen, den Wesensunterschied von natürlicher
Wahrnehmung auf der einen, Illusion und Halluzination auf der anderen
Seite zu einem bloßen Gradunterschied verflüchtigen und damit die
Möglichkeit wirklicher durch Wahrnehmung vermittelter Erkenntnis
überhaupt in Frage stellen'. Ist es aber methodisch unzulässig, das
Normale aus dem Anormalen erreichen zu wollen, so ist die Frage,
worin das eigentlich Pathologische der Halluzination besteht, natürlich
nicht damit beantwortet, daß man sagt, in der natürlichen Wahrnehmung
ergreifen wir die Dinge, wie sie wirklich sind, die Halluzination täusche
ein wirklich bestehendes vor. Freilich ist mit diesem Satz etwas durch-
aus richtiges gesagt. Denn erst unter der Voraussetzung, daß wir in
der natürlichen Wahrnehmung die- Dinge erfassen, wie sie wirklich
sind, kommen wir dazu, von der Halluzination zu reden als einer
Wahrnehmung, die ihren Gegenstand vortäuscht. Aber damit, daß
die Halluzination dies tut, ist die gestellte Frage nicht beantwortet.
Vielmehr, um darzutun, wie es möglich ist, daß jemand Wahrneh-
mungen macht, während seine Wahrnehmungen ihren Gegenstand
vortäuschen, muß die besondere Gesetzmäßigkeit aufgezeigt werden,
unter der die pathologische Wahrnehmungstäuschuug steht, es muß
aufgezeigt werden, wodurch sich die nur für sie geltende Gesetz-
mäßigkeit unterscheidet von der normalen Gesetzmäßigkeit, die für
die natürliche Wahrnehmung gilt.

1 Vgl. hierzu meine Ausführungen diese Zeitschrift Bd. I, 1. Heft Seite 8 ff.,,
sowie Scheler, Über Selbsttäuschungen, ebenda Seite 113 ff.

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