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Syrlin, Jörg; Pée, Herbert [Hrsg.]
Das Ulmer Chorgestühl: 1468 - 1474 — Werkmonographien zur bildenden Kunst in Reclams Universal-Bibliothek, Band 82: Stuttgart: Reclam, 1962

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https://doi.org/10.11588/diglit.65316#0013
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bestimmen. An der nördlichen, der Evangelienseite er-
scheinen ausschließlich männliche, an der Süd- oder
Epistelseite fast ausnahmslos weibliche Figuren. In
ihnen tritt das Programm zutage, das weiter greift, tie-
fer verankert ist und in ungleich entschiedenerer Weise
nach vorne weist als die Inhalte aller anderen deutschen
Chorgestühle dieser Zeit.
Es gipfelt in der Gestalt des Erlösers, die, von der
Höhe des Dreisitzes aus, dem Schiff, der Gemeinde zuge-
wendet ist. Die Figur selbst, an deren schwächlicher Ge-
staltung schon oft herumgerätselt worden ist, ist freilich
eine Nachahmung aus dem 19. Jahrhundert. Es ist an-
zunehmen, daß die Männerseite ebenfalls von einer
Christusstatue, die Frauenseite von einer Mariendar-
stellung gekrönt waren, die entweder nicht fertiggestellt
wurden oder im Bildersturm vernichtet worden sind.
Unterhalb dieser Region, die von der Erfüllung der
Zeiten in Christus kündet, zeigen die Reliefs in den
Wimpergen die Apostel und Heiligen der Kirche, die
das Heil kundgetan und offenbart haben, während in
den Rückwandreliefs darunter Propheten, Stammütter
und weitere Gestalten des Alten Testaments aufgereiht
sind, die es vorbildeten und weissagten. Auf den Stuhl-
wangen endlich erscheinen auf der Frauenseite und am
Dreisitz die Sibyllen des Altertums, die das Nahen
und Leiden Christi vorausgeahnt haben, und an der
Seite der Männer antike Philosophen, Redner, Dichter
und Gelehrte. Das Ganze wird von einem einheitlichen
Grundgedanken durchzogen, der von der Ahnung über
die Weissagung’ und die Verkündung bis zur Voll-
endung der christlichen Offenbarung reicht. Das wäre
an sich nichts Neues, auch wenn Umfang und Systematik
des Programms alles Frühere übertreffen. Auch die Dar-
stellung von Sibyllen und gelegentlich antiker Weiser
war dem Mittelalter nicht unbekannt. Ausschlaggebend
jedoch ist, wie diese Figuren gemeint sind und in wel-

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