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Syrlin, Jörg; Pée, Herbert [Editor]
Das Ulmer Chorgestühl: 1468 - 1474 — Werkmonographien zur bildenden Kunst in Reclams Universal-Bibliothek, Band 82: Stuttgart: Reclam, 1962

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https://doi.org/10.11588/diglit.65316#0007
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II

Dieser Anspruch blieb unverändert fortbestehen, als man
daranging, die halbwegs fertige Kirche auszustatten.
Zwar gab es in den ersten Jahrzehnten des 15. Jahr-
hunderts einige Glasmaler und Steinmetzen von lokalem
Rang in der Stadt, Bildhauer jedoch und Maler vom
Wüchse Ulrichs von Ensingen, der gleichzeitig auch am
Turm des Straßburger Münsters arbeitete, standen nicht
sogleich zur Verfügung. Ungenügsam mit dem Vorhan-
denen und mit dem Ziel vor Augen, auch im Inneren des
Bauwerks etwas Außerordentliches herbeizuführen, zog
man Künstler von auswärts in die Stadt, voran — mit
dem Privileg der Steuerfreiheit — um 1427 den Allgäuer
Hans Multscher, neben dem ein jüngst erst wieder ent-
deckter Meister Hans an den Glasfenstern der Besserer-
kapelle des Münsters tätig war.
Diese Erweiterung der eigenen künstlerischen Potenz
geschah in einem entscheidenden historischen Augenblick:
im Übergang von der hohen zur späten Gotik, in jenem
Moment also, in dem eine von allem Mittelalterlichen
grundsätzlich verschiedene und typisch bürgerliche Erwar-
tung vor dem Kunstwerk dessen Form und dessen Aus-
sage zu verwandeln begann. Der Bürger will der Dinge,
die ihn umgeben, habhaft werden, auch der Dinge der
Kunst. Sie sollen ihm verständlich und miterlebbar sein,
und er verlangt, die eigene, nicht eine fremde Welt in
der der Bilder wiederzuerkennen. Mit der Herrschaft
des Bürgertums, die in den Reichsstädten am reinsten in
Erscheinung trat, ist stets die Hinwendung der Kunst
zur Wirklichkeit, zum Abbild dieser Welt verbunden.
Auch die transzendenten Wesenheiten der christlichen Of-
fenbarung werden aus den überkommenen Jenseitsbezü-
gen herausisoliert, auf dieser unserer Erde angesiedelt
und in den Raum des Erfahrbaren gerückt. Das Ein-

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