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Dichtung und Bildkunst
leben lassen; die Bildkunst konnte dem Auge freilich nur einen
Zeitpunkt der ganzen Linie des Vorgangs, diesen aber in wirklicher
oder scheinbarer Körperlichkeit und in aller Breite räumlich aus-
gedehnt vorstellen. Jede von beiden Künsten hat eine gewisse
Möglichkeit, ihre Grenze durchbrechend, sich der andern zu nähern.
Die Bildkunst kann die Einheit des fixierten Moments gewisser-
massen aufheben, indem sie eine Mehrheit von Personen — was die
Filmserie an einer und derselben zu tun vermag — an derselben Hand-
lung in verschiedener Weise sich beteiligen lässt. Das vollendetste
Beispiel dessen, wohl nicht allein in alter Kunst, ist der Panathenäen-
festzug am Parthenon. Ein andres, ein Gemälde, war die Marathon-
schlacht in der 'Bunten Halle’, wo am einen Ende Miltiades das
Zeichen zum Angriff gab, am andern die Perser bereits auf die
Schiffe fliehend verfolgt wurden. Wie hier die in Wahrheit un-
bewegte, zeitlich festgebannte leibhafte Gegenwärtigkeit doch fürs
Auge den Schein einer bewegten, fortschreitenden Handlung erhielt,
so gewann auch die an keinem Punkte anhaltende, von Moment zu
Moment fortschreitende, nur dem Ohre vernehmbare Dichtung doch
reale Gegenwärtigkeit in der Person und Stimme des vortragenden
Rhapsoden, die sich zu höchster Gegenwartswirkung steigerte gerade
bei dem, was der bildlichen Darstellung am meisten versagt war,
bei ^Wiedergabe der die Handelnden bewegenden Gedanken und
ihrer Worte. Konnten doch die im Selbstgespräch oder zu andern
gesprochenen Worte auch ohne mimische Gebärde schon allein durch
den Ton der Stimme Längstvergangenes als selbsterlebt erscheinen
oder vielmehr tönen lassen.
Und es fand sich ja die Kunst, die beide Arten der Dar-
stellung miteinander vereinte, sowohl die raum- und körperlose
Rede wie die zeit- und wortlosen Bilder; sie fand sich in Tragödie
und Satyrspiel. Hier schaute man nicht mehr bloss ein Schein-
leben in Bildern, man sah und hörte zugleich die berühmten Vor-
gänge alter Sage als wirklich lebendige Begebenheit. Die Schöpfer
dieser neuen Darstellungskunst waren Dichter und Bildner zugleich.
Solche Dichtung war von Anfang an als lebendige Handlung ge-
dacht, bei deren Aufführung in älterer Zeit der Dichter nicht allein
selbst als Schauspieler agierte, wie Aeschylus in der Regel, So-
phokles nur ausnahmsweise noch, sondern auch alle übrigen Mit-
spieler, namentlich auch den das Volk vertretenden Chor einzuüben
pflegte, so dass das Ganze recht eigentlich sein Werk war.
Wir wissen ja freilich, dass die Helden der Tragödie durch
Maske und andre damit harmonierende Ausstaffierung ein andres Aus-
Dichtung und Bildkunst
leben lassen; die Bildkunst konnte dem Auge freilich nur einen
Zeitpunkt der ganzen Linie des Vorgangs, diesen aber in wirklicher
oder scheinbarer Körperlichkeit und in aller Breite räumlich aus-
gedehnt vorstellen. Jede von beiden Künsten hat eine gewisse
Möglichkeit, ihre Grenze durchbrechend, sich der andern zu nähern.
Die Bildkunst kann die Einheit des fixierten Moments gewisser-
massen aufheben, indem sie eine Mehrheit von Personen — was die
Filmserie an einer und derselben zu tun vermag — an derselben Hand-
lung in verschiedener Weise sich beteiligen lässt. Das vollendetste
Beispiel dessen, wohl nicht allein in alter Kunst, ist der Panathenäen-
festzug am Parthenon. Ein andres, ein Gemälde, war die Marathon-
schlacht in der 'Bunten Halle’, wo am einen Ende Miltiades das
Zeichen zum Angriff gab, am andern die Perser bereits auf die
Schiffe fliehend verfolgt wurden. Wie hier die in Wahrheit un-
bewegte, zeitlich festgebannte leibhafte Gegenwärtigkeit doch fürs
Auge den Schein einer bewegten, fortschreitenden Handlung erhielt,
so gewann auch die an keinem Punkte anhaltende, von Moment zu
Moment fortschreitende, nur dem Ohre vernehmbare Dichtung doch
reale Gegenwärtigkeit in der Person und Stimme des vortragenden
Rhapsoden, die sich zu höchster Gegenwartswirkung steigerte gerade
bei dem, was der bildlichen Darstellung am meisten versagt war,
bei ^Wiedergabe der die Handelnden bewegenden Gedanken und
ihrer Worte. Konnten doch die im Selbstgespräch oder zu andern
gesprochenen Worte auch ohne mimische Gebärde schon allein durch
den Ton der Stimme Längstvergangenes als selbsterlebt erscheinen
oder vielmehr tönen lassen.
Und es fand sich ja die Kunst, die beide Arten der Dar-
stellung miteinander vereinte, sowohl die raum- und körperlose
Rede wie die zeit- und wortlosen Bilder; sie fand sich in Tragödie
und Satyrspiel. Hier schaute man nicht mehr bloss ein Schein-
leben in Bildern, man sah und hörte zugleich die berühmten Vor-
gänge alter Sage als wirklich lebendige Begebenheit. Die Schöpfer
dieser neuen Darstellungskunst waren Dichter und Bildner zugleich.
Solche Dichtung war von Anfang an als lebendige Handlung ge-
dacht, bei deren Aufführung in älterer Zeit der Dichter nicht allein
selbst als Schauspieler agierte, wie Aeschylus in der Regel, So-
phokles nur ausnahmsweise noch, sondern auch alle übrigen Mit-
spieler, namentlich auch den das Volk vertretenden Chor einzuüben
pflegte, so dass das Ganze recht eigentlich sein Werk war.
Wir wissen ja freilich, dass die Helden der Tragödie durch
Maske und andre damit harmonierende Ausstaffierung ein andres Aus-