Auswahl und Auftreten des Chors
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Geltung sich auch auf die Bühne, in die Sphäre der Grossen.
Eigenen Willen haben die Kleinen weder einzeln, noch zum Chore
geschart, nach epischem Vorbilde, niemals, und wo ein solcher
flüchtig sich regt, kommt es doch niemals zur Tat.
Also die Menge, das Volk, der grosse Untergrund, über dem
sich die Herren erheben, dessen diese sowenig entbehren können,
wie jene ohne diesen etwas bedeuten, das ist der normale Chor. Er
ist das Volk, nicht als Ganzes, als Begriff, sondern in lebendiger
Wirklichkeit, ein besonderer Teil, in bedeutungsvoller Auswahl, der-
jenige, der, wie im Urdrama die Satyrn oder Mänaden zum Gotte
standen, der tragischen Hauptperson durch Geschlecht oder Alter
oder ’sonstwelche Gemeinschaft nahe genug steht, um an ihrem Tun
und Leiden näheren Anteil zu nehmen, ohne doch eigenen Urteils
bar zu sein. Niemals verfehlt der Dichter dem Zuschauer zu sagen,
wer die sind, die so geschart in die Orchestra einziehen. Direkt
oder indirekt lässt er ihn auch wissen, was jene Menge herbeiführt.
Oft sind sie durch Herrenwort entboten, öfter treibt sie eigenes Ver-
langen, in Sorge und Not, aus Neugier oder teilnehmenden Herzens
zu vernehmen, was nur Höherstehende oder die zunächst Betroffenen
ihnen zu offenbaren vermögen. Dass diese Menge ursprünglich
selbst die Betroffenen waren, der Chor einst Hauptperson war, und
erst allmählich in dem Masse an Bedeutung verliert, als die Per-
sonen der Bühne das Übergewicht bekommen, diesen Werdegang
lassen selbst die erhaltenen Tragödien der drei grossen Meister
noch erkennen. Nie aber hat in ihrer Zeit der Chor ganz auf-
gehört ein wesentlicher Teil des Bildes zu sein, das der Dichter
und Bühnenkünstler von Welt und Menschenschicksal vor dem Zu-
schauer entrollt.
In älterer Zeit, da grosser Sinn und strenges Stilgefühl nur
das Wesentliche und Notwendige im Auge hatte, bietet der Chor
sich ungesucht dem Dichter dar. Freiwillig oder gerufen, kommt
er, ein durch die Natur der Sache geforderter und gebotener Zeuge
der Handlung. So werden die alten Perser, die Besten des Volkes,
durch di« Sorge um die ausgezogenen Heerscharen vor die Pforten
des Königshauses geführt, wie die durch Kriegsnot geängsteten
Mädchen von Theben zu den Heiligtümern der Burg. Nicht anders
als in diesen frühesten Stücken des Aeschylus — die Schutzflehen-
den sind ja nicht Chor im normalen Sinn — auch in seiner letzten
Trilogie, der Orestie: die Greise von Argos kommen in ähnlicher
Sorge um das Heer wie die Perser, durch Klytaemestras Opfer noch
besonders erregt. Auf derselben Geheiss ziehen die Grabspende-
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Geltung sich auch auf die Bühne, in die Sphäre der Grossen.
Eigenen Willen haben die Kleinen weder einzeln, noch zum Chore
geschart, nach epischem Vorbilde, niemals, und wo ein solcher
flüchtig sich regt, kommt es doch niemals zur Tat.
Also die Menge, das Volk, der grosse Untergrund, über dem
sich die Herren erheben, dessen diese sowenig entbehren können,
wie jene ohne diesen etwas bedeuten, das ist der normale Chor. Er
ist das Volk, nicht als Ganzes, als Begriff, sondern in lebendiger
Wirklichkeit, ein besonderer Teil, in bedeutungsvoller Auswahl, der-
jenige, der, wie im Urdrama die Satyrn oder Mänaden zum Gotte
standen, der tragischen Hauptperson durch Geschlecht oder Alter
oder ’sonstwelche Gemeinschaft nahe genug steht, um an ihrem Tun
und Leiden näheren Anteil zu nehmen, ohne doch eigenen Urteils
bar zu sein. Niemals verfehlt der Dichter dem Zuschauer zu sagen,
wer die sind, die so geschart in die Orchestra einziehen. Direkt
oder indirekt lässt er ihn auch wissen, was jene Menge herbeiführt.
Oft sind sie durch Herrenwort entboten, öfter treibt sie eigenes Ver-
langen, in Sorge und Not, aus Neugier oder teilnehmenden Herzens
zu vernehmen, was nur Höherstehende oder die zunächst Betroffenen
ihnen zu offenbaren vermögen. Dass diese Menge ursprünglich
selbst die Betroffenen waren, der Chor einst Hauptperson war, und
erst allmählich in dem Masse an Bedeutung verliert, als die Per-
sonen der Bühne das Übergewicht bekommen, diesen Werdegang
lassen selbst die erhaltenen Tragödien der drei grossen Meister
noch erkennen. Nie aber hat in ihrer Zeit der Chor ganz auf-
gehört ein wesentlicher Teil des Bildes zu sein, das der Dichter
und Bühnenkünstler von Welt und Menschenschicksal vor dem Zu-
schauer entrollt.
In älterer Zeit, da grosser Sinn und strenges Stilgefühl nur
das Wesentliche und Notwendige im Auge hatte, bietet der Chor
sich ungesucht dem Dichter dar. Freiwillig oder gerufen, kommt
er, ein durch die Natur der Sache geforderter und gebotener Zeuge
der Handlung. So werden die alten Perser, die Besten des Volkes,
durch di« Sorge um die ausgezogenen Heerscharen vor die Pforten
des Königshauses geführt, wie die durch Kriegsnot geängsteten
Mädchen von Theben zu den Heiligtümern der Burg. Nicht anders
als in diesen frühesten Stücken des Aeschylus — die Schutzflehen-
den sind ja nicht Chor im normalen Sinn — auch in seiner letzten
Trilogie, der Orestie: die Greise von Argos kommen in ähnlicher
Sorge um das Heer wie die Perser, durch Klytaemestras Opfer noch
besonders erregt. Auf derselben Geheiss ziehen die Grabspende-