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Weibliche Schaurigkeit

menschliches Erbarmen fühlen, eine Möglichkeit — hier knüpft der
Dichter attischen Festbrauch an ■— ihm Gastlichkeit zu erweisen,
ohne doch selber davon Schaden zu haben. Orest bemerkt es wohl,
doch nun auch seinerseits rücksichtsvoll, schweigt er, Taur. Iph.
947. Wie Jolaos den Dienstmann des Hyllos nicht wiedererkennt,
Heraklid 638, so Elektra, 765, einen der Begleiter ihres Bruders, und
sie entschuldigt es mit ihrer Angst. So bitten auch andere höflich um
Entschuldigung wegen eines Verstosses oder einer Übereilung: Me-
gara, dass sie ihrem Schwiegervater ins Wort fiel, Herakl. 534.
Nicht so Theseus, da er Adrast. Schutzfl. 517 das Wort abschneidet.
Denn ihm, nicht Adrast kam es zu, dem Herold zu antworten, und
der Athener sollte sich, den Athenern im Theater zur Genugtuung,
über den Argeier erheben. Ein Nebenmotiv, das sich in den Phö-
nizierinnen auf Kosten der Hauptsache, Jokastens Vermittelungs-
versuch, breit macht, ist der Mutter Frage an den vertriebenen
Sohn, wie sichs in der Fremde lebe, und sie fragt nicht, ohne die
Bitte, er möge entschuldigen, wenn ihre Frage ihm wehe tue. So
bedauert Teukros seine Übereilung, zum Pfeil gegriffen zu haben,
da ihm Helena erklärt, sie sei nicht, die er meine. Mit gewun-
dener Rechtfertigung ihrer Zurückhaltung sahen wir Medea aus dem
Hause treten; noch hinterhältiger später Jason um Vergebung bitten
wegen ihrer Zornäusserung. Ganz im Gegenteil entschuldigt Makaria
Heraklid. 474 ihr Hervortreten aus dem Tempel unter die Männer:
man möge ihr das Verlangen, den Grund von Jolaos Klagen zu
vernehmen, nicht als unweibliche Dreistigkeit auslegen. Euripides’
Jungfrauen erscheinen auf den ersten Blick noch aufopfernder, todes-
mutiger als Sophokles Antigone, und doch zeigen sie durchweg eine
Schamhaftigkeit vor Männern, von der Antigone völlig frei ist, und von
der selbst die zartere Ismene, wo sich’s um Grösseres handelt,
keine Worte macht. Die Antigone des Euripides, deren herausfor-
dernden Trotz gegen Kreon wir bald würdigen werden, ist am An-
fänge der Phönizierinnen ein junges Mädchen von lebhafter Gefühls-
äusserung, die den Beistand ihres alten Hüters erbittet, um die Stiege
zur Ausschau zu erklimmen. Für ihre sittsame Zurückhaltung sorgt
hier der Alte. Als aber später die Mutter sie mitkommen heisst,
hinaus, zwischen die Heere: es gelte die Rettung der Brüder, da
bat sie erst Bedenken, ihre Kemenate zu verlassen, scheut es, unter
die Menge zu treten und muss sich erst von der Mutter sagen lassen,
zur Scham sei keine Zeit. Euripides Frauen und Mädchen müssen
unter allen Umständen erst ihre Weiblichkeit zur Schau tragen, und
wenn Leidenschaft sie zu deren Missachtung treibt, bleibt die Rüge
 
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