gebenheiten darstellte. Der Schlummer floh indes das Lager
beider, und gegen Mitternacht vernahm Frau Liebert, daß Anna
Zu Wiederholtenmalen schwer seufzte. Sie fragte deshalb be-
sorgt, was ihr fehle, und die Jungfrau brach in ein heftiges
Weinen aus und entdeckte der Pflegemutter, was August am
Abend Zu ihr gesprochen hatte.
„Er ist wohl etwas Zu zeitig hervorgetreteu mit seinem
Wunsche, aber, liebe Anna, Du warst immer so gut und freund-
lich gegen meine Söhne, und wenn Dein Herz nicht widerstrebt,
so werde ich Dich und August gerne segnend in meine Arme
schließen. Ich gestehe Dir überdies, daß diese Wahl meines
Sohnes mich sehr erfreut, denn nur mit Schmerzen würde ich
Dich von mir lassen, so teuer bist Du mir geworden."
„Sprecht nicht also, gute Muhme! Ich bin unwert Eurer
Liebe, denn ich habe Euch verhehlt, was ich längst offenbaren
sollte!" entgegnete, sich selbst anklagend in tiefer Betrübnis das
Mädchen. „Als Friedrich am Sonntag vor vierzehn Tagen
bei uns war, habe ich ihm, dem schon längst mein ganzes Herz
gehörte, auch mein Wort gegeben. Ihr wäret gerade, von Eurer
Krankheit genesen, ein wenig ausgegangen; Friedrich mußte den-
selben Tag forr, wollte aber nach dem heiligen Osterfeste wieder-
kommen und Euch alles entdecken. Daß auch August mich liebe,
anders, als ein Bruder die Schwester, habe ich nicht geahnt.
Ratet mir nun, gute Muhme, und helft mir, daß ich nicht Haß
und Unfrieden in Euer Haus bringe."
„Beruhige Dich, Anna! Gott wird helfen, und August
wird, hoffe ich, sich nicht unglücklich fühlen, wenn er Euch glück-
lich sieht. Friedrich ist ia sein Bruder!"
Friedrich war nämlich der ältere Sohn der Witwe Liebert
und schon seit mehreren Jahren Schullehrer auf einem vier
Stunden entfernten Dorfe; seine Einnahme war jedoch bis jetzt
nur gering gewesen. Das Geständnis seiner Liebe Zu Anna,
welches der Verstand eben deshalb noch Zurückhalten wollte,
hatte das Herz ihm auf die Lippen geführt, als er mit dem
guten, frommen Mädchen, der treuen Pflegerin seiner Mutter,
auf eine kurze Zeit sich allein befand.
III.
Zweifaches Verbrechen.
Am Morgen des Gründonnerstags schritt der Superin-
tendent I)r. Reuchlin in der Sakristei der St. Bartholom äi-
Kirche aus und nieder. Er überdachte still bei sich noch einmal
die Festrede, die er vor der Kommunion der Knaben und Mädchen
halten wollte, welche die Schule verlassen halten und heute in
die Zahl der erwachsenen Christen ausgenommen werden sollten.
Sein Auge blieb zufällig auf dem Gotteskasten haften, der ihm
gegenüber stand. Voll Verwunderung bemerkte er, daß die Deckel
desselben eine weit schiefere Richtung hatten als sonst. Er unter-
suchte die Sache und fand zu nicht geringem Schrecken, daß an
der Rückseite die eisernen Bänder gewaltsam losgetrennt, die
Nägel herausqerissen und das Vermögen der Kirche wahrschein-
lich von diebischer Hand angegriffen worden war. Die Zeit
drängte indes, das Lied war Zu Ende und Reuchlin mußte Zum
Altar treten. Aber sogleich nach Beendigung seiner amtlichen
Geschäfte, die der fromme Greis mit bekümmertem Gemüte ver-
richtete, rief er den Küster Lobegott Ehrhardt in die Sakristei
um in seiner Gegenwart den kirchenräuberischen Frevel genauer
zu besichtigen. Die That konnte nicht bezweifelt werden und es
mochten wohl, soweit man jetzt uachzukommen im Stande war
nicht unbedeutende Summen fehlen.
Der Superintendent fragte, wer heute zuerst die Kirche
betreten habe; und der Küster entgegnete, daß er selbst gegen
acht Uhr die Thüren geöffnet, aber sowohl an ihnen, als an
den Fenstern nichts gefunden habe, das auf einen gewaltsamen
Einbruch deute. Auch meinte er, das Verbrechen müsse erst vor
kurzer Zeit, vermutlich in der letzten oder der vorletzten Nacht
verübt worden sein, weil es ihm sonst am vergangenen Dienstag
gewiß nicht entgangen wäre. Da habe er während der Aus-
spendung des Abendmahls ganz in der Nähe des Gotteskastens
gesessen. Hente jedoch sei von ihm im Drange der Geschäfte,
die er ganz allein verrichtet, nichts schärfer ins Auge gefaßt
worden.
Hierauf nahm Ur. Reuchlin den Küster mit sich in seine
Wohnung, um die Aussagen desselben niederzuschreiben, bevor
er eine gerichtliche Anzeige machte. „Wann ist er das letztemal
in der Kirche zu St. Bartholomen gewesen?"
„Am vorigen Dienstag, Hochwürden, wie ich bereits
gesagt."
„Und wer hat gestern die Aufwartnng für den heutigen
Gottesdienst gehabt?"
„Der Kreuzträger August Liebert, Hochwürden."
„Wo ist Liebert? Ich habe ihn nicht in der Kirche
gesehen."
Der Küster Zuckte mit den Achseln. „Liebert wohnt bei
mir, wie Ew. Hochwürden bekannt ist; aber er ist in der letzten
Nackt nicht nachhause gekommen. Da er auch am heutigen
Morgen nach sieben Uhr noch nicht zurückgekehrt war, schickte ich
zu seiner Mutter in der Voraussetzung, daß er sich vielleicht ver-
spätet habe und bei ihr geblieben sei. Ich erhielt jedoch die auf-
fallende Nachricht, er sei gestern Abend vor Zehn Uhr von dort
weggegangen, um noch einiges in der Kirche Zu ordnen und dann
in sein Logis sich Zu begeben. An demselben Abend bin ich, um
ihn Zu erwarten, noch lange munter geblieben, aber er ist nicht
gekommen."
Mit großer Trauer empfing Reuchlin diese Nachricht. „Hat
Liebert die Kirchenschlüssel gehabt?'
„Ja, Hochwürden, sie sind doppelt vorhanden; er nahm
das eine Bund Zur Besorgung seiner Geschäfte gestern Nachmit-
tag mit sich. Ich habe es natürlich noch nicht zurück."
„Unglücklicher Jüngling!" klagte der fromme Geistliche.
„Ich will nicht fürchten, daß der böse Feind Dich verblendet
und Deine Hand Zu so abscheulicher That gelenkt hat; aber von
Leichtsinn und Gewissenlosigkeit scheint Deine Entfernung doch
Zeugnis abzulegen! Gebe Gott, daß ich mich irre! — Sag' Er
mir offen, Ehrhardt, da Er Liebert am besten kennen muß, hat
Er keinen Grund für die Abwesenheit des jungen Menschen?
Ueberall habe ich bis jetzt nur Gutes von ihm gehört; selbst
der Hofrat Jaeob, dessen Enkel er unterrichtete, rühmte nicht
nur seine Kenntnisse, sondern auch seine edle, biedere Gesinnung.
Er war seiner Versorgung so nahe, sollte er wirklich sein Lebens-
glück aus so thörichte und schändliche Weise haben verscherzen
können?"
„Hochwürden, ich mag ihn weder anklagen noch verteidigen,
denn ich habe keine Beweise, daß er unredlich gewesen. Aber er
sollte angestellt werden und brauchte vieles Zu einer neuen Ein-
richtung; die alte Witwe Liebert ist sehr arm und außerdem
soll er in einem intimen Verhältnis zu einen: ebenfalls ganz un-
bemittelten Mädchen stehen. Dasselbe ist weitläufig mit ihm
verwandt und hält sich bei seiner Mutter auf. Wer weiß-
doch ich will damit nichts Nachteiliges über ihn gesagt haben." —