Erläuterungen
Um der obigen Darstellung ihren thesenartigen, zu klärendem Streite
der Meinungen herausfordernden Charakter zu wahren, habe ich sie
weder mit eingehenden Erörterungen noch mit großen Anmerkungen
belastet. Ich gebe daher anhangsweise einige Ergänzungen und Erläu-
terungen.
I. I n d i v i d u a 1 i s i e r u n g i m A r c h a i s m u s u n d i m 5. Jahr-
h u n d e r t. Nichts ist leichter, als ein unregelmäßiges und daher indivi-
duell wirkendes Profil zu zeichnen oder auch plastisch zu bilden; auf
primitiver Stufe spielt dabei auch der Zufall mit. Daß die Griechen fähig
waren, individuelle Formen zu sehen und zu gestalten, versteht sich
schon für den hohen Archaismus von selbst und nach dem Ende der ab-
strakten Stilisierung des geometrischen Stiles stellen sich auch alsbald
die Zeugnisse dafür ein. Auf einem frühattischen Kännchen der soge-
Taf. xn 9 nannten Phalerongattung finden sich zwei Protomen und eine mit einem
zwergenhaften Körper ausgestattete Gestalt nebeneinander1). Alle
di-ei sind verschieden und wirken höchst individuell; die beiden Proto-
men sind jedoch nur Abwandlungen des gleichen, damals beliebten
Grundtypus mit kühn geschwungener Nase2). Die darin offenbarte Kur-
venfreude ist ein allgemeines Formelement des Stiles, das ebenso wie
die realistische Durchbildung und Gliederung der Einzelformen in be-
wußtem Gegensatz zum geometrischen Stile steht; wie weit ins Einzelne
dabei der orientalische Einfluß geht, ist für unser Problem gleichgültig.
Neben den sicher und schwungvoll stilisierten Protomen wirkt der voll-
kommen abweichende dritte Kopf wie eine eigentliche Naturstudie; der
Maiei- hat hier ganz frei aus seiner Kenntnis verschiedener Kopftypen
geschöpft.
Gegenüber diesen tastenden Anfängen realistischer Menschendar-
stellung im hohen 7. Jahrhundert zeigt sich die archaische Typenbil-
dung in der korinthischen Keramik des 6. Jahrhunderts schon stark fort-
*) Der Kürze und Einfachheit wegen zitiere ich Vasenbilder meist aus meiner Ma-
lerei und Zeichnung der Griechen III; wenn die Abbildungen in meinen weiter verbrei-
teten Meisterwerken griechischer Zeichnung und Malerei wiederholt sind, füge ich das
Zitat in Klammern bei (Mw.). Die Phaleronkanne Mal. Taf. 17, 80 f.
2) Mal. T. 18, 84 (Mw. T. 2, 2) ; Journ. hell. stud. XXII 1902 T. 2 f. Vgl. auch Atli.
Mitt. XXVIII 1903, 13G f. Beilage VI 6.
18
Um der obigen Darstellung ihren thesenartigen, zu klärendem Streite
der Meinungen herausfordernden Charakter zu wahren, habe ich sie
weder mit eingehenden Erörterungen noch mit großen Anmerkungen
belastet. Ich gebe daher anhangsweise einige Ergänzungen und Erläu-
terungen.
I. I n d i v i d u a 1 i s i e r u n g i m A r c h a i s m u s u n d i m 5. Jahr-
h u n d e r t. Nichts ist leichter, als ein unregelmäßiges und daher indivi-
duell wirkendes Profil zu zeichnen oder auch plastisch zu bilden; auf
primitiver Stufe spielt dabei auch der Zufall mit. Daß die Griechen fähig
waren, individuelle Formen zu sehen und zu gestalten, versteht sich
schon für den hohen Archaismus von selbst und nach dem Ende der ab-
strakten Stilisierung des geometrischen Stiles stellen sich auch alsbald
die Zeugnisse dafür ein. Auf einem frühattischen Kännchen der soge-
Taf. xn 9 nannten Phalerongattung finden sich zwei Protomen und eine mit einem
zwergenhaften Körper ausgestattete Gestalt nebeneinander1). Alle
di-ei sind verschieden und wirken höchst individuell; die beiden Proto-
men sind jedoch nur Abwandlungen des gleichen, damals beliebten
Grundtypus mit kühn geschwungener Nase2). Die darin offenbarte Kur-
venfreude ist ein allgemeines Formelement des Stiles, das ebenso wie
die realistische Durchbildung und Gliederung der Einzelformen in be-
wußtem Gegensatz zum geometrischen Stile steht; wie weit ins Einzelne
dabei der orientalische Einfluß geht, ist für unser Problem gleichgültig.
Neben den sicher und schwungvoll stilisierten Protomen wirkt der voll-
kommen abweichende dritte Kopf wie eine eigentliche Naturstudie; der
Maiei- hat hier ganz frei aus seiner Kenntnis verschiedener Kopftypen
geschöpft.
Gegenüber diesen tastenden Anfängen realistischer Menschendar-
stellung im hohen 7. Jahrhundert zeigt sich die archaische Typenbil-
dung in der korinthischen Keramik des 6. Jahrhunderts schon stark fort-
*) Der Kürze und Einfachheit wegen zitiere ich Vasenbilder meist aus meiner Ma-
lerei und Zeichnung der Griechen III; wenn die Abbildungen in meinen weiter verbrei-
teten Meisterwerken griechischer Zeichnung und Malerei wiederholt sind, füge ich das
Zitat in Klammern bei (Mw.). Die Phaleronkanne Mal. Taf. 17, 80 f.
2) Mal. T. 18, 84 (Mw. T. 2, 2) ; Journ. hell. stud. XXII 1902 T. 2 f. Vgl. auch Atli.
Mitt. XXVIII 1903, 13G f. Beilage VI 6.
18