Kapitel IV
Zur Ethnographie der Ingväonen
In den vorigen Kapiteln bot sich schon hin und wieder Gelegenheit, wichtigere
ethnographische Schlüsse, die sich aus dem archaeologi sehen Material ergeben, zu be-
rühren. Aber es wird zweckmäßig sein, einmal im Zusammenhang die Funde auf ihre
Verwertbarkeit in bezug auf ethnographische Fragen zu prüfen. Vor allen Dingen wird es
darauf ankommen, archaeologische Kulturprovinzen herauszuarbeiten und diese mit
Völkerstämmen zu identifizieren, eine Methode, wie sie besonders Kossinna
herausgearbeitet und angewandt hat1)- Hierzu sind wir berechtigt, wenn der Nach-
weis gelingt, daß ein archaeologisch scharf umschriebenes Gebiet auch nach den
historischen Nachrichten einem bestimmten Stamme zuzuweisen ist. Ich werde im
folgenden von der auf historischer Grundlage gewonnenen Stammesverteilung ausgehen
und damit die Verbreitung der Funde vergleichen.
In der frührömischen Kaiserzeit trennen sich die Germanen in zwei große Stamm-
familien, in die Ost- und W e s t g e r m a n e n , die sowohl sprachlich als auch archaeo-
logisch, wie Kossinna2) gezeigt hat, scharf voneinander geschieden sind. Die
W estgermane n zerfallen wieder in die drei großen Stamm verbände der Her-
minonen, I s t v ä o n e n und I n g v ä o n e n. Diese Dreiteilung der westgerma-
nischen Stämme ist uns sowohl durch Plinius3) als auch durch Tacitus4)
bezeugt. Plinius rechnet zu den Ingväonen die Stämme der Kimbern,
Teutonen und C h a u k e n , Tacitus die Stämme am Ozean. Die Ingväonen
bilden auch sprachlich eine einheitliche, geschlossene Gruppe. Sie umfassen die Völker
des anglo-friesischen Sprachstammes 5). Da nach Bremer das Friesische und Ang-
lische sich außerordentlich nahe stehen, muß diese Spracheinheit schon in vorchrist-
licher Zeit bestanden haben, als die beiden Stämme noch nahe beieinander saßen.
Die also sowohl sprachlich als historisch fest umschriebene Stammfamilie der Ing-
väonen behauptete nach Bremer6) um 100 n. Ohr. das Gebiet nördlich einer Linie,
die sich von der Zuider-See nach Münden und von hier nach Hamburg
zieht. Ingväonen wohnten auch im westlichen und mittleren Holstein, in
Schleswig, Jütland und auch auf einem Teil der dänischen Inseln7).
Landschaftlich zeigt dieses Gebiet der Ingväonen einen sehr einheitlichen
Charakter. Es ist im wesentlichen die weite nordwestdeutsche Tiefebene, die dem
deutschen Mittelgebirge im Norden vorgelagert ist. Zwischen weiten unbebauten
Heideflächen, unwegsamen Mooren und großen Wäldern siedelten die Stämme der
P Gustaf Kossinna, Die Herkunft der Germanen. Zur Methode der Siedlungsarchaeologie, Würzburg
.1911. Mannus-Bibliothek Nr. 6.
2) Kossina, Zeitschrift für Ethnologie 1905, S. 386 ff.
3) P 1 i n i u s , N. H. IV, 99.
4) Tacitus, Germania, c. 2.
6) Siebs, Zur Geschichte der englisch-friesischen Sprachei, Halle 1889. Bremer, Ethnographie der
.germanischen Stämme, S. 108 ff.
6) Bremer, a. a. O., S. 110.
’) Kossinna, Indogermanische Forschungen VII, S. 309; Mannus IV, S. 430.
Zur Ethnographie der Ingväonen
In den vorigen Kapiteln bot sich schon hin und wieder Gelegenheit, wichtigere
ethnographische Schlüsse, die sich aus dem archaeologi sehen Material ergeben, zu be-
rühren. Aber es wird zweckmäßig sein, einmal im Zusammenhang die Funde auf ihre
Verwertbarkeit in bezug auf ethnographische Fragen zu prüfen. Vor allen Dingen wird es
darauf ankommen, archaeologische Kulturprovinzen herauszuarbeiten und diese mit
Völkerstämmen zu identifizieren, eine Methode, wie sie besonders Kossinna
herausgearbeitet und angewandt hat1)- Hierzu sind wir berechtigt, wenn der Nach-
weis gelingt, daß ein archaeologisch scharf umschriebenes Gebiet auch nach den
historischen Nachrichten einem bestimmten Stamme zuzuweisen ist. Ich werde im
folgenden von der auf historischer Grundlage gewonnenen Stammesverteilung ausgehen
und damit die Verbreitung der Funde vergleichen.
In der frührömischen Kaiserzeit trennen sich die Germanen in zwei große Stamm-
familien, in die Ost- und W e s t g e r m a n e n , die sowohl sprachlich als auch archaeo-
logisch, wie Kossinna2) gezeigt hat, scharf voneinander geschieden sind. Die
W estgermane n zerfallen wieder in die drei großen Stamm verbände der Her-
minonen, I s t v ä o n e n und I n g v ä o n e n. Diese Dreiteilung der westgerma-
nischen Stämme ist uns sowohl durch Plinius3) als auch durch Tacitus4)
bezeugt. Plinius rechnet zu den Ingväonen die Stämme der Kimbern,
Teutonen und C h a u k e n , Tacitus die Stämme am Ozean. Die Ingväonen
bilden auch sprachlich eine einheitliche, geschlossene Gruppe. Sie umfassen die Völker
des anglo-friesischen Sprachstammes 5). Da nach Bremer das Friesische und Ang-
lische sich außerordentlich nahe stehen, muß diese Spracheinheit schon in vorchrist-
licher Zeit bestanden haben, als die beiden Stämme noch nahe beieinander saßen.
Die also sowohl sprachlich als historisch fest umschriebene Stammfamilie der Ing-
väonen behauptete nach Bremer6) um 100 n. Ohr. das Gebiet nördlich einer Linie,
die sich von der Zuider-See nach Münden und von hier nach Hamburg
zieht. Ingväonen wohnten auch im westlichen und mittleren Holstein, in
Schleswig, Jütland und auch auf einem Teil der dänischen Inseln7).
Landschaftlich zeigt dieses Gebiet der Ingväonen einen sehr einheitlichen
Charakter. Es ist im wesentlichen die weite nordwestdeutsche Tiefebene, die dem
deutschen Mittelgebirge im Norden vorgelagert ist. Zwischen weiten unbebauten
Heideflächen, unwegsamen Mooren und großen Wäldern siedelten die Stämme der
P Gustaf Kossinna, Die Herkunft der Germanen. Zur Methode der Siedlungsarchaeologie, Würzburg
.1911. Mannus-Bibliothek Nr. 6.
2) Kossina, Zeitschrift für Ethnologie 1905, S. 386 ff.
3) P 1 i n i u s , N. H. IV, 99.
4) Tacitus, Germania, c. 2.
6) Siebs, Zur Geschichte der englisch-friesischen Sprachei, Halle 1889. Bremer, Ethnographie der
.germanischen Stämme, S. 108 ff.
6) Bremer, a. a. O., S. 110.
’) Kossinna, Indogermanische Forschungen VII, S. 309; Mannus IV, S. 430.