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Probst, Hansjörg
Neckarau (Band 2): Vom Absolutismus bis zur Gegenwart — Mannheim, 1989

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https://doi.org/10.11588/diglit.3003#0373
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in mehreren Schritten bis 1907 das Bündnissystem des Dreiverbandes schlössen. Für England, das lange
zögerte, einem Bündnis mit den Kontinentalmächten Frankreich und Rußland näher zu treten, war die
deutsche Seerüstung das ausschlaggebende Moment. Gerade die deutsche Flottenaufrüstung, das Lieb-
lingskind des Kaisers und der ganzen Nation, die im Flottenverein tüchtig dazu beitrug, wurde für Eng-
land immer mehr zum Alptraum; denn es sah sich gezwungen, jedem zusätzlichen deutschen Großkampf-
schiff weitere eigene Schlachtschiffe gegenüberzustellen: das erste und klassische Beispiel einer von der
modernen Technik bestimmten Rüstungsspirale. Das Ergebnis der wilhelminischen Welt-, Kolonial- und
Flottenpolitik war somit die radikale Verschlechterung des deutsch-englischen Verhältnisses bis zur un-
verhüllten Feindschaft, so daß Großbritannien der eigentliche Gegner Deutschlands wurde und lange
bleiben sollte. Diese deutsch-englische Feindschaft ist umso erstaunlicher, als sich die beiden eng ver-
wandten Nationen niemals in ihrer tausendjährigen Geschichte feindlich gegenüber gestanden hatten und
sich gerade im 19. Jahrhundert besonders herzlich als Vettern zu bezeichnen pflegten. Ein Zeichen dafür
sind ja auch die engen verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den englischen und den deutschen
Herrscherhäusern.

Eine Anzahl schwerer internationaler Krisen, die vor allem auf dem Balkan ihren Ursprung hatten, zeig-
ten die wachsenden Spannungen an, die zwischen den mitteleuropäischen Mächten und dem Dreiver-
band bestanden. Krieg lag in der Luft, wurde aber immer wieder durch besonnene Kräfte zurückge-
drängt, so daß auch die Julikrise des Jahres 1914 nach der Ermordung des österreichischen Thronfolgers
am 28. Juni für viele nicht aus dem gewohnten Rahmen der Krisenabläufe zu fallen schien. Als sich dann
in den letzten Julitagen mit dem österreichischen Ultimatum an Serbien der Mechanismus der Ultimaten
selbständig zu machen begann und in einem geradezu atemberaubenden Automatismus die Kriegserklä-
rungen der Großmächte folgten, befand sich nach dem 4. August 1914 Europa plötzlich im Krieg, ohne
daß den Menschen der Ernst der Situation noch recht zum Bewußtsein gekommen wäre. Die Überra-
schung war so groß, daß sich jede Seite angegriffen fühlte und in grenzenloser Begeisterung auszog, ihre
gerechte Sache zu verteidigen. Nun war aus der militärischen Romantik der damaligen Zeit, aus der
Kriegsbegeisterung und Kriegsspielerei der Kriegervereine blutiger Ernst geworden, den man aber in sei-
ner wahren Tragik noch sehr lange nicht begriff. Auf beiden Seiten wurden die breiten Volksmassen, vom
Kriegsgeist ergriffen, was sich schlagend darin zeigt, daß selbst die sozialistische Internationale zerbrach
und die SPD die Kriegskredite bewilligte. Sehr bald zeigte der gewaltige Aufmarsch der Millionenheere,
der russischen Dampfwalze in Ostpreußen ebenso wie der deutsche Vormarsch in Belgien und Frank-
reich, daß die Erfahrungen von 1870/71 nichts mehr galten. Der Weltkrieg, wie die Zeitgenossen sehr bald
sagten, war in vollem Gange. Immer gewaltiger wurde das Ringen, immer grausamer die Kriegsmaschine
und immer länger die Liste der Gefallenen. Bisher unvorstellbar war das Grauen des Stellungskrieges und
der Materialschlachten, die an der Somme und vor Verdun ihre grausigen Höhepunkte mit Hunderttau-
senden von Gefallenen hatten.1

1.2. Neckarau im Ersten Weltkrieg

Am 31. Juli 1914 und am 1. August wurde der Kriegsausbruch auch in Neckarau be-
kanntgemacht. Zwei Mann zogen nachmittags durch die Straßen, ein Trommler und
ein Ausrufer. An allen Ecken machten sie Halt. Darauf folgte ein Trommelwirbel,
und dann wurde die Bekanntmachung verlesen, daß der Belagerungszustand über
das Reichsgebiet verhängt sei und das Deutsche Reich sich im Krieg befinde. An den
darauffolgenden Abenden fanden sich überall auf den Straßen und in den Wirtschaf-
ten gestellungspflichtige Leute ein, um über ihre bevorstehende Einberufung zu
sprechen. Einige hatten schon ihre Einberufung und zeigten sie stolz umher; sie wur-
den von allen beneidet.2

Doch wurde Neckarau wie auch der größte Teil Deutschlands von direkten Kriegs-
handlungen nicht betroffen. Der Erste Weltkrieg hat in der deutschen Heimat so gut
wie keine Zerstörungen angerichtet. Die Luftangriffe in den westlichen Teilen des
Reiches forderten zwar beklagenswerte Todesopfer, waren aber in ihrer Gesamtwir-
kung bedeutungslos. So gab es insgesamt 46 Luftangriffe auf Mannheim, bei denen
rund 130 Bomben geworfen wurden und neun Menschen ums Leben kamen, 20 wur-

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