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Nachdem wir in den letzten Kapiteln die überragenden Künstlerpersönlichkeiten behandelt
haben, müssen wir uns nun dem Phänomen des Manierismus näher zuwenden, zu dem man die
wagemutigsten Künstler zählen darf, die von einem wirklichen Hunger nach Neuem getrieben
wurden. Sie gehören nicht immer zu den besten, wohl aber zu den für uns interessantesten
Erscheinungen ihrer Zeit.
Wir sollten uns hüten, den Hämischen Manierismus nur als eine kurze Mode oder gar als einen
Verfall anzusehen. Es stimmt zwar, daß sich die Manieristen oft nicht mehr an die Hämische
Tradition gebunden fühlten, für die die künstlerische Wahrheit in der Genauigkeit der Form
und der handwerklichen Qualität lag. Aber man muß anerkennen, in welchem Maße es diesen
Künstlern gelungen ist, die schon erstarrten künstlerischen Formeln aufzubrechen. Manche
dieser Besessenen rührten mit ihrer Kunst an die Grundfesten der Renaissance: das Prinzip des
Maßes. Aber nichtsdestoweniger offenbart sich im Manierismus das Grundphänomen der
Renaissanceidee des 16. Jahrhunderts: die Gespaltenheit des Menschen aus der doppelten
Bindung an die Wirklichkeit und an das Geistige. Die Manieristen bringen den Geist dieser
Zeit am besten zum Ausdruck, einer Zeit, in der sich alles ändert, in der der Mensch die Erde
in ihrem Ausmaß und in ihrer Weite erforscht, in der er die Gesetze des Weltalls und des Mikro-
kosmos zu ahnen beginnt, in der er schließlich sogar sich selbst entdeckt und seinen eigenen
geistigen Wert erkennt. Der Mensch ist aus einer Zeit des Gleichgewichtes und der sicheren
Stabilität in ein Jahrhundert der Krisen eingetreten. Bis jetzt hatte ihm eine altüberkommene
Lehre alle Antworten auf die wesentlichen Seinsprobleme geben können, nun geht der abend-
ländische Mensch einer Zeit des Zweifels und der seelischen Ungewißheit entgegen. Die
alten Überzeugungen können ihm keine Gewißheit mehr geben. Alles erscheint in Zweifel
gestellt. Durch die neuen Erkenntnisse tauchen Probleme auf, für die man meist nur Schein-
lösungen Hnden kann. Indem der Humanismus der Vernunft eine so überragende Bedeutung
zuweist, kann er dem Einzelnen nur ein noch stärkeres Selbstbewußtsein geben. Manche hielten
sich nun für den Mittelpunkt der Welt, die ihnen jeden Tag weiter zu werden schien. «Was
wäre mir unmöglich?» ruft der von diesem Denken berauschte Mensch verwundert aus.
Historiker glauben heute, sie könnten die Entwicklung dieser Zeit erklären, wenn sie die
großen Entdeckungen als Anhaltspunkte nähmen. Das ist eine Illusion. Selbst die bedeutendsten
Männer des 16. Jahrhunderts verfolgten den wissenschaftlichen Fortschritt keineswegs Schritt
für Schritt, wie es die meisten der heutigen Wissenschaftler tun. Das 1543 von Kopernikus ver-
öffentlichte Buch: «De Revolutionibus orbium ccelestium» wurde nur von wenigen Gebildeten
gelesen. Es dauerte noch etwa 40 Jahre, bis diese revolutionäre Vorstellung von einem sich um
die Sonne drehenden Firmament durch das 1584 von Giordano Bruno veröffentlichte Buch:
«La Cena delle cenori» Anerkennung fand. Aber in dieser Zeit änderte sich die Einstellung
zum Universum. Die Welt sah plötzlich völlig anders aus: durch die Entdeckungen war sie
größer geworden, obgleich sich in Wirklichkeit nur der Blickwinkel geändert hatte, aus dem
man sie betrachtete. Die Einschätzung des Menschen und seiner Stellung im Universum hatte
sich jedoch überhaupt nicht verändert. Bevor die Menschheit hier zu neuen Perspektiven
gelangen konnte, mußte sie erst alle Ungewißheiten und Täuschungen aus dem Wege räumen.
Wir haben bereits gezeigt, daß die Renaissance keine Rückkehr zur Klarheit der Antike,
sondern vielmehr eine Zeit der Gespaltenheit war. Noch während man veraltete Vorstellungen
aufgab und nach einer neuen Sicherheit suchte, quälten lange Zeit Angst und Zweifel das
Gewissen. Man stürzte sich mit wahrem Feuereifer auf alle neuen Ideen, aber eine nach der
anderen erwies sich als unfähig, zur tragenden Grundlage werden zu können.
In der Religion, einem für diese Zeit lebenswichtigen Gebiet, wurden die alten Ordnungen
des Mittelalters langsam immer brüchiger. Die Nachlässigkeit der Geistlichkeit hatte zu einer
bloßen mündlichen Unterweisung geführt und entbehrte jeglicher Tiefe. Der Aberglaube hatte
sich eingeschlichen und drohte das religiöse Gefühl der Massen zu ersticken. Als um die Mitte