18
I. Einleitung
Diesen Paradigmenwechsel, der in der deutschen Forschung zunächst auf das
Spätmittelalter angewandt worden war, hat Bernd Schneidmüller unter dem
Konzept der „konsensualen Herrschaft" auch für das Frühmittelalter fruchtbar
gemacht. Mit diesen Ansätzen rückten dann mehr und mehr die „primores", die
Gruppen jenseits des Königtums und ihr politisches Agieren sowie die Gedan-
ken, die sie sich über politische Ordnung machten, in das Zentrum der For-
schung. Neben diesen Ansätzen hat besonders der methodische Zugriff der
Wahmehmungs- und Vorstellungsgeschichte seit den späten 1980er Jahren
kontinuierlich immer mehr an Bedeutung gewonnen18. Einer ihrer Hauptver-
treter, Hans Werner Goetz, vertritt gegen Johannes Fried die Auffassung, dass
die frühmittelalterlichen Zeitgenossen eine Staatsvorstellung entwickelten und
nicht allein ein Konzept von Hof und Kirche, die für das „Reich" stünden 19. Vor
allem historiographische Zeugnisse befragte er nach politischen Erwartungs-
haltungen der Autoren. Auch bei unterschiedlicher politischer Tendenz der
Autoren könne erschlossen werden, an welchen Maßstäben Könige, Bischöfe
und andere Amtsträger gemessen wurden20. Hans-Werner Goetz hat so her-
ausgearbeitet, dass Texte den Zugriff auf einen Referenzrahmen, auf ein System
von allgemein anerkannten (als „wahr" erkannten) und akzeptierten Auffas-
sungen über politische Ordnung ermöglichen.
Die Neubewertung wurde vor allem durch internationale Forschungsvor-
haben vorangetrieben, etwa zu „Staat und Staatlichkeit"21 und zu den Eliten in
den fränkischen Reichen22. Das jüngste internationale Projekt in dieser Reihe war
der Regierungszeit Ludwigs des Frommen gewidmet mit dem Titel „Produkti-
vität einer Krise"23. In den Projekten wurden explizit das Zusammenwirken von
Aus den Einzelstudien vgl. Nelson, The Lord's anointed and the people's choice; Dies., Intellec-
tual in politics (zu dem programmatischen Kapitular von Coulaines); Dies., Legislation and
Consensus sowie Dies., How the Carolingians created consensus. Zur politischen Partizipation
grundlegend Reuter, Assembly politics mit einer Definition von „Reichsversammlung"
(Reichsversammlung immer dann, wenn der Herrscher in seiner Gegenwart einige Personen
versammelt, die nicht permanente Miglieder seiner Entourage sind); vgl. dazu die Weiterent-
wicklung seines Ansatzes bei Airlie, Talking Heads, bes. S. 36-38. Airlie stützt sich auf die
Forschungen Philippe Depreuxs zur Propsographie der Umgebung Ludwigs des Frommen
(Depreux, Prosopographie). In der deutschsprachigen Forschung wurde Depreuxs Ansatz vor
allem von Daniel Eichler aufgegriffen, Vgl. Eichler, Reichsversammlungen. Zur Rolle der
„Großen" grundlegend auch die Arbeiten Regine Le Jans (Familie et pouvoir) und die von ihr
angeregte Beschäftigung mit den Eliten des Frankenreichs (s. Anm. 11).
18 Zur Vorstellungsgeschichte vgl. bes. die Arbeiten von Hans-Werner Goetz. Zur Methode vgl.
bes. Goetz, Vorstellungsgeschichte; Ders., Geschichtsschreibung; Ders., Textualität; Ders.,
Wahmehmungs- und Deutungsmuster.
19 Goetz, Erwartungen; Ders., Regnum; Fried, Gens und regnum; Zur Kontroverse vgl. auch Deu-
tinger, Pragmatische Verfassungsgeschichte, bes. S. 19-24; vgl. auch Jarnut, Anmerkungen.
20 Vgl. bes. die Fallbeispiele und das Fazit in Goetz, Erwartungen, S. 482-485.
21 Vgl. die Sammelbände „Staat im Frühmittelalter" und „der Frühmittelalterliche Staat".
22 S. die oben in Anm. 11 genannten Beiträge.
23 Vgl. jetzt den aus einem großen internationalen Projekt zur Regierungszeit Ludwigs des
Frommen hervorgegangenen Sammelband: „La productivite d'une crise/Produktivität einer
Krise". Vgl. zur Umsetzung des Konzepts auch grundlegend De Jong, Penitential State. Zur
I. Einleitung
Diesen Paradigmenwechsel, der in der deutschen Forschung zunächst auf das
Spätmittelalter angewandt worden war, hat Bernd Schneidmüller unter dem
Konzept der „konsensualen Herrschaft" auch für das Frühmittelalter fruchtbar
gemacht. Mit diesen Ansätzen rückten dann mehr und mehr die „primores", die
Gruppen jenseits des Königtums und ihr politisches Agieren sowie die Gedan-
ken, die sie sich über politische Ordnung machten, in das Zentrum der For-
schung. Neben diesen Ansätzen hat besonders der methodische Zugriff der
Wahmehmungs- und Vorstellungsgeschichte seit den späten 1980er Jahren
kontinuierlich immer mehr an Bedeutung gewonnen18. Einer ihrer Hauptver-
treter, Hans Werner Goetz, vertritt gegen Johannes Fried die Auffassung, dass
die frühmittelalterlichen Zeitgenossen eine Staatsvorstellung entwickelten und
nicht allein ein Konzept von Hof und Kirche, die für das „Reich" stünden 19. Vor
allem historiographische Zeugnisse befragte er nach politischen Erwartungs-
haltungen der Autoren. Auch bei unterschiedlicher politischer Tendenz der
Autoren könne erschlossen werden, an welchen Maßstäben Könige, Bischöfe
und andere Amtsträger gemessen wurden20. Hans-Werner Goetz hat so her-
ausgearbeitet, dass Texte den Zugriff auf einen Referenzrahmen, auf ein System
von allgemein anerkannten (als „wahr" erkannten) und akzeptierten Auffas-
sungen über politische Ordnung ermöglichen.
Die Neubewertung wurde vor allem durch internationale Forschungsvor-
haben vorangetrieben, etwa zu „Staat und Staatlichkeit"21 und zu den Eliten in
den fränkischen Reichen22. Das jüngste internationale Projekt in dieser Reihe war
der Regierungszeit Ludwigs des Frommen gewidmet mit dem Titel „Produkti-
vität einer Krise"23. In den Projekten wurden explizit das Zusammenwirken von
Aus den Einzelstudien vgl. Nelson, The Lord's anointed and the people's choice; Dies., Intellec-
tual in politics (zu dem programmatischen Kapitular von Coulaines); Dies., Legislation and
Consensus sowie Dies., How the Carolingians created consensus. Zur politischen Partizipation
grundlegend Reuter, Assembly politics mit einer Definition von „Reichsversammlung"
(Reichsversammlung immer dann, wenn der Herrscher in seiner Gegenwart einige Personen
versammelt, die nicht permanente Miglieder seiner Entourage sind); vgl. dazu die Weiterent-
wicklung seines Ansatzes bei Airlie, Talking Heads, bes. S. 36-38. Airlie stützt sich auf die
Forschungen Philippe Depreuxs zur Propsographie der Umgebung Ludwigs des Frommen
(Depreux, Prosopographie). In der deutschsprachigen Forschung wurde Depreuxs Ansatz vor
allem von Daniel Eichler aufgegriffen, Vgl. Eichler, Reichsversammlungen. Zur Rolle der
„Großen" grundlegend auch die Arbeiten Regine Le Jans (Familie et pouvoir) und die von ihr
angeregte Beschäftigung mit den Eliten des Frankenreichs (s. Anm. 11).
18 Zur Vorstellungsgeschichte vgl. bes. die Arbeiten von Hans-Werner Goetz. Zur Methode vgl.
bes. Goetz, Vorstellungsgeschichte; Ders., Geschichtsschreibung; Ders., Textualität; Ders.,
Wahmehmungs- und Deutungsmuster.
19 Goetz, Erwartungen; Ders., Regnum; Fried, Gens und regnum; Zur Kontroverse vgl. auch Deu-
tinger, Pragmatische Verfassungsgeschichte, bes. S. 19-24; vgl. auch Jarnut, Anmerkungen.
20 Vgl. bes. die Fallbeispiele und das Fazit in Goetz, Erwartungen, S. 482-485.
21 Vgl. die Sammelbände „Staat im Frühmittelalter" und „der Frühmittelalterliche Staat".
22 S. die oben in Anm. 11 genannten Beiträge.
23 Vgl. jetzt den aus einem großen internationalen Projekt zur Regierungszeit Ludwigs des
Frommen hervorgegangenen Sammelband: „La productivite d'une crise/Produktivität einer
Krise". Vgl. zur Umsetzung des Konzepts auch grundlegend De Jong, Penitential State. Zur