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Kleinjung, Christine; Johannes Gutenberg-Universität Mainz [Contr.]
Quellen und Forschungen zum Recht im Mittelalter (Band 11): Bischofsabsetzungen und Bischofsbild: Texte - Praktiken - Deutungen in der politischen Kultur des westfränkisch-französischen Reichs 835-ca. 1030 — Ostfildern: Jan Thorbecke Verlag, 2021

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.74403#0158
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5. Diskussionen nach der Absetzung: Die Strategien Gunthars und Thietgauds

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caritas und compassio nicht vergessen werden sollten640. Hinkmar und Gunthar
wären demnach durch das gemeinsame Amt verbunden, nicht durch Sympathie.
Mit diesem Brief liegt uns — dies ganz im Sinne des Rundschreibens von 864 —
ein eindrückliches Zeugnis für Werben um Solidarität und Kollegialität inner-
halb der Gruppe der Bischöfe vor. Gunthar (und zumindest 864 auch noch
Thietgaud) setzten voraus, dass es eine kollektive Identität gab und dies würde
sich auf Basis des kollektiven Wissens um das Bischofsamt auch erklären lassen.
Lässt sich doch gerade die Entwicklung von der individuellen Meinungsäuße-
rung einzelner Bischöfe hin zu einem verdichteten Wissensbestand über das
Bischofsamt, das von einzelnen Personen unabhängig ist, das sich transpersonal
verbreitete und sich etwa in Konzilsbeschlüssen niederschlägt, als wichtigster
Entwicklungsschub im Episkopat des 9. Jahrhunderts ausmachen641. Verbunden
mit diesem Prozess war die Anerkennung des Bischofsbildes, des bischöflichen
Handlungs- und Machtanspruchs durch andere gesellschaftliche Gruppen.
Doch es bleiben Unabwägbarkeiten. Argumentierten Bischöfe wie Gunthar
nämlich damit — mit der gemeinsamen apostolischen Nachfolge aller Bischöfe
(und gegen eine Suprematie des Bischofs von Rom als Nachfolger Petri), mit ihrer
Gruppenidentität, mit ihrem Stand, der geehrt werden musste, so zogen offenbar
nicht alle nach. Der Episkopat ist bei genauerem Hinsehen keine homogene
Gruppe. Die Bischöfe mögen zwar über gemeinsame Wissensbestände in der
Theorie verfügt haben, aus diesen Wissensbeständen jedoch konkrete Erwar-
tungen für die politische Praxis abzuleiten, ist nicht zulässig. Es gab eine Vielzahl
an Handlungsoptionen, keine Einheitsidentität und daraus abgeleitetes Ver-
halten in tagespolitischen Entscheidungen.
Zwar wollte sich der fränkische Episkopat ebenso wenig wie die Delin-
quenten Gunthar und Thietgaud sowie die fränkischen Könige dem päpstlichen
Jursidiktionsprimat beugen, wie das Nicht-Erscheinen auf den von Papst Ni-
kolaus I. einberufenen Synoden 864 und 865 zeigt642. Aber sie gingen eben auch
nicht so weit, sich konsequent hinter ihre zwei Mitbrüder zu stellen. Auch
Hinkmar stand nicht grundsätzlich hinter Gunthar und Thietgaud, wie seine
negative Berichterstattung in den Annales Bertiniani mehr als deutlich zeigt —
auch wenn er vermutlich auch deren König Lothar mit treffen möchte. Er hält
jedenfalls in seinem Annalenwerk auch nicht mit Kritik an Unterstützern Gun-
thars und Thietgauds hinterm Berg, wie schon die Schilderung der römischen
Unternehmung Ludwigs II. gezeigt hat. Auch die Auseinandersetzungen um
den Primat, um Cambrai und Rothad von Soissons machten deutlich, dass
Gunthar und Hinkmar keine klassischen „Verbündeten" waren643. Dennoch

640 MGH Cone. IV, S. 192: Nunc, mi pater, quoscunque fratres et coepsicopos monere studete, ut fraterne
caritatis et compassionis non obliviscantur.

641 So die Ergebnisse von Patzold, Episcopus. Zur Schwierigkeit, kollektive Meinungen aus den
Quellen zu ermitteln jetzt auch Bührer-Thierry, Episcopat et royaute, bes. S. 145 f.

642 Die Bischöfe und die Könige hatten kein Interesse daran, ihre Kirchen der direkten Leitung des
Papstes zu unterstellen. Vgl. Hartmann, Synoden, 284.

643 Wolfgang Georgi geht soweit, Gunthar und Thietgaud als die „Hauptgegner" Hinkmars zu
bezeichnen. Vgl. Georgi, Erzbischof Gunthar, S. 32.
 
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