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Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt — 5.1925

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Radek, Karl: Ein Brief Karl Radeks: [Brief an Max Barthel]
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https://doi.org/10.11588/diglit.63706#0039
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ich dann die sozialistische Presse las, die „berichtete“ und „besprach“ usw„ da
ergoß sich in mein Herz eine Welle von Haß. Menschen, die den Tod ihrer
Nächsten diskutieren! Wenn sie ihn nicht verhindern können, wenn sie sich
nicht vor die Räder der im Galopp dahineilenden Kanonen werfen können,
warum schreien sie nicht gellend? Und wenn ich an die Arbeiter der Fabrik-
städte dachte, die, zufrieden, daß sie nicht ins Feld müssen, Tag und Nacht
die Instrumente des Mordes produzierten, so haßte ich sie. Und als ich las,
wie stumpfsinnig sie zuschauen, wie ihnen die Ketten angelegt werden — es
wurde damals im Reichstag über das Hilfsdienstgesetz debattiert, und die
guten Unabhängigen protestierten sogar, und das entschieden —, da haßte
ich sie wieder. Und wir saßen manchen Abend, meine Frau, Paul Levy und
ich, dort oben, halbstumm, mit diesem Haß, geboren aus dem Blut, das auf den
Schlachtfeldern, aus dem Schweiß derer in den Fabriken floß, in der Seele.
Und Wochen für Wochen suchte ich die Gefühle, die in mir tobten, zu Ge-
danken umzuformen, die zum Kampfe führen, schrieb mir die Finger wund
in der „Arbeiterpolitik“, und dabei verflüchtigte sich der Groll gegen die
Stumpfheit, und ich fragte mich: Wie kannst du bestimmen wollen, wieviel
Druck notwendig ist, um das Meer aus den Ufern treten zu lassen?!
Und so ist, in dem Augenblick, wo ich dies schreibe, auch die Verzweiflung,
der Haß vorüber, die in mir aufstiegen, als ich alle Eure Presseberichte in den
letzten Wochen las; die kommunistischen in erster Linie. Der Haß ist wieder
umgeformt in Willen zum Wecken, aber er hielt mich viele Tage lang gefangen,
als ich sah, wie Ihr über den Kampf Petrograds „berichtet“, wie Ihr ihn „be-
sprecht“ und wie aus keiner Brust ein Schrei ertönt, aus keinem Flerzen ein
großer Hymnus.
Aber wenn ich an Petrograd denke, so steigt mir heißes Blut ins Flerz, und
ich möchte dort sein, und wenn nötig mich mit meinen Brüdern dort begraben
lassen. Ich bin mit dieser Stadt verbunden, wie ein Kind verbunden ist mit der
Mutter, an deren Krankenlager es sitzt, deren Ringen zwischen Leben und
Tod es nur untätig mitansehen kann. Einmal nur stand ich mitten drinnen,
in diesem Ringen Petrograds, jetzt bin ich verdammt, von ferne, nachts zu
zittern, daß mir der Morgen die Nachricht von seinem Tode bringen wird;
verdammt, dieser Stadt heroischen Leib mit Tränen abzuwaschen und zu
Grabe zu tragen, um sie dann wieder jauchzend auferstehen zu sehen.
Es quält mich unsagbar, daß ich kein großer Dichter bin, daß ich dem
Weltproletariat das Lied von Petrograd sänge. Die Petrograder Arbeiter
waren es, die es gewagt haben, die Macht in die Hände zu nehmen. Nie-
mand von Euch weiß, was das bedeutet: Sklave zu sein, geschlagen, miß-
handelt zu werden, in den Krieg geschleift zu werden, die große Erniedrigung
erleben zu müssen, die bürgerliche Welt zusammenbrechen zu sehen und auf-
zustehen und angesichts des Erdbebens und der Ruinen, die es hinterläßt, zu
erklären: „Ich schaffe es, ich werde die Welt wieder einrenken!“ Und das
haben die Petrograder Arbeiter getan, allen Zweiflern zum Trotz. Neun
Zehntel der Partei-Intellektuellen, die besten von ihnen, Sinowjew, Kamje-
njew, Rykow und Nogin, sie alle standen gegen Lenin, als er, der kühle
Stürmer, erklärte: „Die Zeit ist gekommen!“ Die Hände zitterten ihnen.
Mit dem Kopfe hatten sie die Unumgänglichkeit der proletarischen Diktatur
verstanden, als aber die Stunde kam und sie das Proletariat sahen, verlassen
von allem, was Bildung und Kultur darstellt, nur unterstützt von plumpen
Bauernmassen, die morgen wieder in die Höhlen des Mittelalters zurück-

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