Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt
— 5.1925
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https://doi.org/10.11588/diglit.63706#0038
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Radek, Karl: Ein Brief Karl Radeks: [Brief an Max Barthel]
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Wladimir von Bechtejew
EIN BRIEF KARL RADEKS
Lieber Freund Barthel!
Ich schreibe Ihnen und kann Ihnen schreiben, weil Sie Dichter sind. Nur
einem Dichter oder einer nahen Frau kann man aus sich heraus schreiben.
Und es ist gut, wenn man sie hat. Meine Frau ist fern. Ich weiß, daß sie
an jeder Tagesstunde dasselbe fühlt wie ich. Und ich bin immer mit ihr.
Aber man schreibt nicht nur, weil man es für sich muß, weil der in Worten
ausgedrückte Schmerz ein gelinderter Schmerz ist, weil das Wort wie die Träne
den Schmerz abspült. Man schreibt, weil man durch das Aussprechen dessen,
was in einem schreit, Nahen zu helfen glaubt. Wir sind aktiv sogar im
Leiden.
Vielleicht wird mal, wenn wir beide nicht mehr da sind, ein solcher Bericht
des Dichters darüber, was wir in diesen Jahren der großen Geburtswehen der
Menschheit gefühlt haben, mehr den neuen Menschen, die wir jetzt im Blute
gebären, sagen, als alle Revolutionen und Broschüren.
Weshalb habe ich den Aufruf für die Jugend und den Aufsatz über diese
nicht geschrieben? Ich konnte nicht. Ich war in den letzten Wochen mit
allen Kräften meiner Seele in Petersburg. Ein Gitter trennte mich von
Petersburg, und ich zerrieb mich an ihm. Ich versuchte, mich durch das
Gitter hindurchzuzwängen, durch die Nebel hineinzudringen; zu meinen
Brüdern in Petersburg zu gelangen. Was ich zu sagen hatte, konnte ich nur
in das Kampfgetümmel dort hineinschreien, nur für die russischen, die Petro-
grader Arbeiter, hatte ich Worte, Schreie, nicht für die Zuschauer in Europa.
Vor Jahren, 1917, saß ich hoch oben in Davos. Jeden Tag lief ich einige
Male durch den Schnee zur Post und holte mir die Zeitungen. Sie schienen
mir mit Blut geschrieben. Ich sah jeden Mann, der im Felde fiel. Lind wenn
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EIN BRIEF KARL RADEKS
Lieber Freund Barthel!
Ich schreibe Ihnen und kann Ihnen schreiben, weil Sie Dichter sind. Nur
einem Dichter oder einer nahen Frau kann man aus sich heraus schreiben.
Und es ist gut, wenn man sie hat. Meine Frau ist fern. Ich weiß, daß sie
an jeder Tagesstunde dasselbe fühlt wie ich. Und ich bin immer mit ihr.
Aber man schreibt nicht nur, weil man es für sich muß, weil der in Worten
ausgedrückte Schmerz ein gelinderter Schmerz ist, weil das Wort wie die Träne
den Schmerz abspült. Man schreibt, weil man durch das Aussprechen dessen,
was in einem schreit, Nahen zu helfen glaubt. Wir sind aktiv sogar im
Leiden.
Vielleicht wird mal, wenn wir beide nicht mehr da sind, ein solcher Bericht
des Dichters darüber, was wir in diesen Jahren der großen Geburtswehen der
Menschheit gefühlt haben, mehr den neuen Menschen, die wir jetzt im Blute
gebären, sagen, als alle Revolutionen und Broschüren.
Weshalb habe ich den Aufruf für die Jugend und den Aufsatz über diese
nicht geschrieben? Ich konnte nicht. Ich war in den letzten Wochen mit
allen Kräften meiner Seele in Petersburg. Ein Gitter trennte mich von
Petersburg, und ich zerrieb mich an ihm. Ich versuchte, mich durch das
Gitter hindurchzuzwängen, durch die Nebel hineinzudringen; zu meinen
Brüdern in Petersburg zu gelangen. Was ich zu sagen hatte, konnte ich nur
in das Kampfgetümmel dort hineinschreien, nur für die russischen, die Petro-
grader Arbeiter, hatte ich Worte, Schreie, nicht für die Zuschauer in Europa.
Vor Jahren, 1917, saß ich hoch oben in Davos. Jeden Tag lief ich einige
Male durch den Schnee zur Post und holte mir die Zeitungen. Sie schienen
mir mit Blut geschrieben. Ich sah jeden Mann, der im Felde fiel. Lind wenn
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