Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt
— 5.1925
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Hearn, Lafcadio; Meyrink, Gustav [Transl.]: Das Bild in der Teetasse
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DAS BILD IN DER TEETASSE
Von
LAFCADIO HEARN*)
Hast du jemals die Treppe irgendeines alten Turmes erklommen, die sich
in der Dunkelheit emporwindet, und kennst du das Gefühl, das einen da be-
schleicht, mitten im Herzen tiefer Finsternis, am spinnwebdünnen Rande des Nichts?
Oder hast du einmal einen Küstenpfad verfolgt, der sich an einer Klippe hin-
zieht, um dich plötzlich auf dem zackigen Rand eines schmalen Dammes zu
entdecken ?
Der Gefühlswert einer solchen Erfahrung läßt sich nur messen an der Wucht
der Empfindungen, die da in einem aufwachen, und an der Lebendigkeit, die sie
in unserer Erinnerung einnehmen.
Ähnlich seltsame Eigenschaften wohnen gewissen Phantasiefragmenten inne,
die wir in alten japanischen Geschichtenbüchern finden; — sie erwecken in uns
ähnliche Gefühle wie die oben erwähnten. —
Mag sein, daß der Erzähler faul und nachlässig war, vielleicht wurde er
plötzlich vom Schreibtisch weggerufen und kam nicht mehr zurück, vielleicht
hatte er einen Streit mit seinem Verleger; vielleicht hat ihm mitten im ange-
fangenen Satz der Tod den Schreibpinsel aus der Hand geschlagen!?
Kein Sterblicher vermag uns genau anzugeben, aus welchem Grunde derlei
Erzählungen wohl unvollendet geblieben sind. —
Ich führe hier ein typisches Beispiel an:
Am vierten Tage des ersten Monats im dritten Tenwa, was so viel heißt wie:
ungefähr vor zweihundertundzwanzig Jahren — machte der Graf Nakagawa
Sado, als er gerade auf dem Wege war, eine Neujahrsvisite abzustatten, mit
seinem Gefolge vor einem Teehause in Hakusan im Hongödistrikt von Yedo halt.
*) Aus: Jäpanische Geistergeschichten von Lafcadio Hearn. Deutsch von Gustav Meyrink.
Propyläen-Verlag, Berlin.
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