MEIN PUBLIKUM
von
PAUL NIKOLAUS, Conferencier der ,,Gondel“
Eigentlich wäre dies wohl eine Arbeit, die weniger einem Kabarett-Conferen-
cier zukommt, als einem Berufs-Soziologen. Wenn Simmel, was ich wohl für
seine größte Unterlassungssünde halte, Conferencier gewesen wäre, hätte er
sicher eher ein Buch über das Kabarett als über das Geld geschrieben. Da er
aber leider nach dieser Richtung artistisch unbegabt war und ich keinen sozio-
logischen Komplex habe, muß ich den Dingen von einer anderen Seite bei-
kommen. Die Gliederung kann ja sch.ießlich
nicht so schwer sein: wenn man auch jeden
Abend vor einem völlig neu zusammenge-
würfelten Publikum steht, sind die einzelnen
Typen doch dieselben, und lediglich die quan-
titativ verschiedenartige Zusammensetzung gibt
jenes „täglich neue Gesamtbild“, jene an-
maßende Masse, der man immer wieder mit
einem Schuß Strenge, einem Schuß Liebens-
würdigkeit und einem Schuß Bescheidenheit
Kt beikommen muß.
gefährlichsten Besucher sind unbe-
dingt jene meist einzeln auftreten-
den Herren in gerei.tem Alter,
die nach einem sehr guten Abend-
essen im Kabarett erscheinen, weil
k sie dort gewesen sein wollen, und
al die beim ersten Heben des Vor-
y hangs nur von dem einen Ge-
danken beseelt sind, ob es denen
dort oben wohl gelingen werde,
sie zum Lachen zu bringen. Um
dies zu verhindern, lesen sie sehr
oft während der Vorstellung Zei-
tung, bisweilen essen sie eine Nach-
speise, und immer ärgern sie sich
über die Qualität oder den Preis
der Getränke. Sie legen meist keinen Wert auf Garderobe und nehmen Anstoß,
wenn einer auf der Bühne gut angezogen ist. Sehr oft tragen sie Bärte. Wenn
dieser Typ aus der Provinz kommt, fühlt er sich zudem etwas unsicher im
Milieu, und er sucht sich dann stets einen Nachbartisch, nach dem er sich in
seiner Heiterkeit und in seinem Beifall richtet. Meistens sind das auch Jung-
gesellen, oder sie tun wenigstens so. Kommen sie aber mit der Frau, dann ist
es ganz aus. Wenn sie noch keinen Krach bekommen haben, ehe die Vor-
stellung beginnt, so fangen die Ehezwistigkeiten unbedingt mit dem Auftreten
der Anfangstänzerin an. Tänzerinnen haben meist nette Beine. Der Mann so-
wohl wie die Frau bemerken das. Und da die Frau bemerkt, daß er es be-
merkt hat, und fühlt, wie er Vergleiche zieht mit dem, was sie an sich Bein
nennt, sucht sie, erbittert über diesen Gedankenseitensprung, die nächste
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von
PAUL NIKOLAUS, Conferencier der ,,Gondel“
Eigentlich wäre dies wohl eine Arbeit, die weniger einem Kabarett-Conferen-
cier zukommt, als einem Berufs-Soziologen. Wenn Simmel, was ich wohl für
seine größte Unterlassungssünde halte, Conferencier gewesen wäre, hätte er
sicher eher ein Buch über das Kabarett als über das Geld geschrieben. Da er
aber leider nach dieser Richtung artistisch unbegabt war und ich keinen sozio-
logischen Komplex habe, muß ich den Dingen von einer anderen Seite bei-
kommen. Die Gliederung kann ja sch.ießlich
nicht so schwer sein: wenn man auch jeden
Abend vor einem völlig neu zusammenge-
würfelten Publikum steht, sind die einzelnen
Typen doch dieselben, und lediglich die quan-
titativ verschiedenartige Zusammensetzung gibt
jenes „täglich neue Gesamtbild“, jene an-
maßende Masse, der man immer wieder mit
einem Schuß Strenge, einem Schuß Liebens-
würdigkeit und einem Schuß Bescheidenheit
Kt beikommen muß.
gefährlichsten Besucher sind unbe-
dingt jene meist einzeln auftreten-
den Herren in gerei.tem Alter,
die nach einem sehr guten Abend-
essen im Kabarett erscheinen, weil
k sie dort gewesen sein wollen, und
al die beim ersten Heben des Vor-
y hangs nur von dem einen Ge-
danken beseelt sind, ob es denen
dort oben wohl gelingen werde,
sie zum Lachen zu bringen. Um
dies zu verhindern, lesen sie sehr
oft während der Vorstellung Zei-
tung, bisweilen essen sie eine Nach-
speise, und immer ärgern sie sich
über die Qualität oder den Preis
der Getränke. Sie legen meist keinen Wert auf Garderobe und nehmen Anstoß,
wenn einer auf der Bühne gut angezogen ist. Sehr oft tragen sie Bärte. Wenn
dieser Typ aus der Provinz kommt, fühlt er sich zudem etwas unsicher im
Milieu, und er sucht sich dann stets einen Nachbartisch, nach dem er sich in
seiner Heiterkeit und in seinem Beifall richtet. Meistens sind das auch Jung-
gesellen, oder sie tun wenigstens so. Kommen sie aber mit der Frau, dann ist
es ganz aus. Wenn sie noch keinen Krach bekommen haben, ehe die Vor-
stellung beginnt, so fangen die Ehezwistigkeiten unbedingt mit dem Auftreten
der Anfangstänzerin an. Tänzerinnen haben meist nette Beine. Der Mann so-
wohl wie die Frau bemerken das. Und da die Frau bemerkt, daß er es be-
merkt hat, und fühlt, wie er Vergleiche zieht mit dem, was sie an sich Bein
nennt, sucht sie, erbittert über diesen Gedankenseitensprung, die nächste
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