ITALIENISCHES THEATER
Von
VITTORIO ORAZI
Der erste in Italien, der in seinen Bühnenwerken die tiefste Seele der modernen
Zivilisation wiedergab, sie fühlte und sich an ihr versuchte, diese Seele, die
Tat ist, Tat als berauschender Schwung des Lebens, als das sich selbst Übersteigern,
Tat als heroischer und kraftvoller Auftrieb, der, des Todes nicht achtend, all-
umfassend ist — der erste, der das gefräßige Leben und den grauenvollen Ruhm
der modernen Stadt feierte und den Willen zur Macht pries, der erste, der für die
Literatur und das Theater Italiens neue Seelenschwingungen schuf und der unser
Theater Wirksamkeit und die herrschende Dynamik des westlichen Europas lehrte:
dieser erste war Gabriele d’Annunzio.
Das Theater d’Annunzios preist die „weltliche Religion der Tat“, wie einer
unserer größten Kritiker — Tilgher — es definiert. Er hat sich zum Propagan-
disten der wahren Religion unserer Zeit gemacht, wenn auch in einer individuellen
und aristokratischen Form: jener modernen Ethik, für die es Tugend und Glück
bedeutet, das Leben zu leben, die das Leben dynamisch auffaßt, als den ewigen
Auftrieb einer heroischen Selbstübersteigerung, über alle Hindernisse, über alle
moralischen und sozialen Grenzen hinweg.
Die außerordentliche historische Bedeutung des Werks unseres Dichters be-
ruht zweifellos hierin, denn er war der erste italienische Künstler, eine europäische
Sprache in Europa sprechend, der über die Grenzen seines Landes hinaus ein
umfassendes und tiefes Echo zu wecken verstanden hat.
Die Tragödie d’Annunzios ist die heroische Tragödie des Willens zum Leben.
Die Leidenschaft, die seine Gestalten beseelt, ist eine elementare und überquellende
geistige Kraft, die ihre Haltung in den verschiedenen Epochen des chimärischen
Lebens der Dichtung bestimmt; sie treibt in Unzucht, in Gewalttätigkeit, in Rach-
sucht, verwickelt in Kampf und Eroberung, hetzt in Abenteuer und in unerreich-
bare Fernen.
Seine Helden treten uns entgegen, wenn die tragischen Gewalten, die in ihnen
wirken, den Höhepunkt ihrer Spannung erreicht haben. Die Katastrophe ist da-
her schon klar vorgezeichnet, und es gibt keine Möglichkeit mehr, durch äußere
Ereignisse den Lauf der Entwicklung zu ändern oder ihn aufzuhalten. Die Tragödie
d’Annunzios kennt weder den Fortschritt noch die psychologische Entwicklung,
und es ist nicht eine Spur der Verkettung von Ursache und Wirkung zu finden.
Das Hauptmotiv des Werkes d’Annunzios ist demnach folgendes: es ist weder
der Kampf des Instinkts gegen die höheren Mächte des sittlichen Lebens, noch
ein dynamisches oder dionysisches Gesetz, sondern es ist eine apollinische, statische
Anschauung, der wehmütige Charme der zerstörenden Macht des Instinkts, die
berauschende Lebenskraft, die über alle Bande und Gesetze hinweg sich ihrem
fessellosen Spiel überläßt.
Von „La figlia di Jorio“ bis „Francesca da Rimini11, von „Pia ehe l’atnore“
bis „La nave“, von „La cittä morta“ bis „La Gioconda“, von „Ferro“ bis „La
Pisanella“, in allen seinen Bühnenwerken sind die eigentlichen Helden, die treiben-
den Kräfte: Sinnlichkeit und Naturzustand, mächtige Instinkte, die sich, mitten
durch Zerstörung und Tod hindurch, völlig verströmen lassen, und die immer
wieder neu erstarken, die ihre Niedrigkeit läutern und sich durch den heroischen
Aufstieg, durch die Selbstübersteigerung, vergeistigen. So verwandelt sich Sinn-
lichkeit in Idealismus, so entkeimt der Notwendigkeit des Helden, den Tod zu
überwinden, das Drama d’Annunzios.
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Von
VITTORIO ORAZI
Der erste in Italien, der in seinen Bühnenwerken die tiefste Seele der modernen
Zivilisation wiedergab, sie fühlte und sich an ihr versuchte, diese Seele, die
Tat ist, Tat als berauschender Schwung des Lebens, als das sich selbst Übersteigern,
Tat als heroischer und kraftvoller Auftrieb, der, des Todes nicht achtend, all-
umfassend ist — der erste, der das gefräßige Leben und den grauenvollen Ruhm
der modernen Stadt feierte und den Willen zur Macht pries, der erste, der für die
Literatur und das Theater Italiens neue Seelenschwingungen schuf und der unser
Theater Wirksamkeit und die herrschende Dynamik des westlichen Europas lehrte:
dieser erste war Gabriele d’Annunzio.
Das Theater d’Annunzios preist die „weltliche Religion der Tat“, wie einer
unserer größten Kritiker — Tilgher — es definiert. Er hat sich zum Propagan-
disten der wahren Religion unserer Zeit gemacht, wenn auch in einer individuellen
und aristokratischen Form: jener modernen Ethik, für die es Tugend und Glück
bedeutet, das Leben zu leben, die das Leben dynamisch auffaßt, als den ewigen
Auftrieb einer heroischen Selbstübersteigerung, über alle Hindernisse, über alle
moralischen und sozialen Grenzen hinweg.
Die außerordentliche historische Bedeutung des Werks unseres Dichters be-
ruht zweifellos hierin, denn er war der erste italienische Künstler, eine europäische
Sprache in Europa sprechend, der über die Grenzen seines Landes hinaus ein
umfassendes und tiefes Echo zu wecken verstanden hat.
Die Tragödie d’Annunzios ist die heroische Tragödie des Willens zum Leben.
Die Leidenschaft, die seine Gestalten beseelt, ist eine elementare und überquellende
geistige Kraft, die ihre Haltung in den verschiedenen Epochen des chimärischen
Lebens der Dichtung bestimmt; sie treibt in Unzucht, in Gewalttätigkeit, in Rach-
sucht, verwickelt in Kampf und Eroberung, hetzt in Abenteuer und in unerreich-
bare Fernen.
Seine Helden treten uns entgegen, wenn die tragischen Gewalten, die in ihnen
wirken, den Höhepunkt ihrer Spannung erreicht haben. Die Katastrophe ist da-
her schon klar vorgezeichnet, und es gibt keine Möglichkeit mehr, durch äußere
Ereignisse den Lauf der Entwicklung zu ändern oder ihn aufzuhalten. Die Tragödie
d’Annunzios kennt weder den Fortschritt noch die psychologische Entwicklung,
und es ist nicht eine Spur der Verkettung von Ursache und Wirkung zu finden.
Das Hauptmotiv des Werkes d’Annunzios ist demnach folgendes: es ist weder
der Kampf des Instinkts gegen die höheren Mächte des sittlichen Lebens, noch
ein dynamisches oder dionysisches Gesetz, sondern es ist eine apollinische, statische
Anschauung, der wehmütige Charme der zerstörenden Macht des Instinkts, die
berauschende Lebenskraft, die über alle Bande und Gesetze hinweg sich ihrem
fessellosen Spiel überläßt.
Von „La figlia di Jorio“ bis „Francesca da Rimini11, von „Pia ehe l’atnore“
bis „La nave“, von „La cittä morta“ bis „La Gioconda“, von „Ferro“ bis „La
Pisanella“, in allen seinen Bühnenwerken sind die eigentlichen Helden, die treiben-
den Kräfte: Sinnlichkeit und Naturzustand, mächtige Instinkte, die sich, mitten
durch Zerstörung und Tod hindurch, völlig verströmen lassen, und die immer
wieder neu erstarken, die ihre Niedrigkeit läutern und sich durch den heroischen
Aufstieg, durch die Selbstübersteigerung, vergeistigen. So verwandelt sich Sinn-
lichkeit in Idealismus, so entkeimt der Notwendigkeit des Helden, den Tod zu
überwinden, das Drama d’Annunzios.
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