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Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt — 5.1925

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Brousson, Jean-Jacques: Anatole France in Pantoffeln
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https://doi.org/10.11588/diglit.63706#0373

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ANATOLE FRANCE IN PANTOFFELN
Von
JEAN JACQUES BROUSSON*)
Ich habe meine Kappe vergessen.
Er ist scheinbar zerstreut. Alle seine Taschen hat er der Reihe nach durch-
wühlt, die Schlüssel, die Brille, die Börse hervorgezogen. France: ,,Madame, ich
habe meine Kappe in der Villa Said vergessen.“ Monsieur: ,,Er hat seine Kappe
vergessen!“ Madame: „Nun gut, läuten Sie, wir schicken Franz hin.“ France:
„Dieser Dummkopf aus Sologne wird sie nie finden...“ Madame: „Es gibt bei
Ihnen mindestens hundert Kappen. Sie sammeln sie. Ein Blinder würde zehn da-
von herschaffen.“ France: „Aber es gibt Kappen und Kappen. Heute ist mir
bald heiß, bald kalt, ich kann nicht mit bloßem Kopfe arbeiten.“ Madame: „Bu-
dikermanieren! Sie haben diese Narrheit von Ihrem Vater, dem Buchhändler,
geerbt. Nichts ist häßlicher und ungesünder, das ist die Quelle der Erkältungen.“
„Was wollen Sie, Gnädigste, es ist zu spät, mich zu bessern. Ohne . meine
Kappe kommt bei mir keine Arbeit zustande, die etwas taugt.“ Er steht auf. „Sie
gehen doch nicht fort, hoffe ich? Sie haben niqht ein Wort geschrieben. Wenn
man Sie so sieht, Herr France, würde man Sie für einen unartigen fünfzehn-
jährigen Bengel halten und nicht für einen Unsterblichen.“ France: „Fünfzehn
Jahre! Madame! Und zum Henker mit der Unsterblichkeit!“
Er setzt sich wieder, nimmt eine Zeitung, faltet sie wie die Kopfbedeckung eines
Gendarmen und setzt sie auf, nach Art der Schriftsetzer. Dann errichtet er sich eine
Barrikade aus Wörterbüchern gegen den Feind, das heißt gegen die Hausfrau.
Nachdem er diese Schutzwehr mit Hilfe des Littre und der großen Enzyklopädie
fertig gebaut hat, lehnt er sich gegen die wappengeschmückte Lehne des Kathe-
ders, schließt die Augen und schläft, mit offenem Mund, die Hände auf dem
Leib gefaltet. Er scheint den Schlaf ordentlich zu trinken. Der Papierhut ist ihm
über die Augen geglitten. Ein Foliant des Tresor de la Basse Latinite dient ihm
als Fußbank.
Madame streicht aus, Monsieur rechnet, ich lese Druckbogen. Plötzlich stößt
Madame einen kläglichen Nasallaut aus. Madame: „Herr France! Ich sehe Sie
nicht mehr. Was ist das für eine spanische Wand? Sind Sie Einsiedler geworden?
Sind Sie tot?“ Monsieur: „Nein, Madame, er schläft, er schnarcht! Er genießt
den Schlaf so, daß es ein Jammer wäre, ihn zu wecken.“
*
Credo.
„Schon beim ersten Artikel des Dekalogs sträubt sich alles in mir: ,Du sollst
keine anderen Götter haben neben mir . . .* Nein, alle Götter, alle Tempel, alle
Göttinnen.“
— „Die Zeit bewahrt nichts, was man ohne sie getan hat.“
— „Mißtrauen Sie zu großen, wohlklingenden Sätzen: erst wiegen sie ein,
dann schläfern sie ein.“
— „Die schönsten Stoffe: die einfachsten, die nacktesten.“
♦) Aus dem gleichnamigen Buch, das in der einzigen autorisierten Uebertragung ins Deutsche
demnächst im Verlag für Kulturpolitik, Berlin, erscheinen wird.

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