DER LETZTE KAISER: MARCEL PROUST
Von
ANDRE GERMAIN
In unseren Tagen ist nichts von Bestand. Wir haben in einem Jahr die ganzen
gefürchteten Machthaber stürzen sehen. Keines Kaisers Macht leuchtet mehr in
die Finsternis des heutigen Europa. Welche Kapriolen der konstitutionellen Mon-
archien und selbst der Republiken stehen uns noch bevor ? Staatspapiere sind die
gefährlichste Spekulation geworden, die Sitten ändern sich jahreszeitweise; bei
den Überrealisten, die alle Beunruhigten zu Rate ziehen, hat man noch nicht die
Mode des nächsten Frühjahrs bestimmt; die Frauen wissen nicht, wie sie sich im
nächsten Jahr das Haar schneiden werden.
Es gibt neue Staaten, von denen wir nicht einmal die Namen wissen,
und über deren Zukunft ich keine Wette riskieren würde. Aber ein internatio-
nales Reich ist gegründet, zu dessen Dauer ich das größte Vertrauen habe: das
Werk Marcel Prousts.
*
Im November 1917 begann Schreckliches. Die bolschewistische Revolution war
ausgebrochen; viele der Leute, die sie ruinierte oder die sie durch ihre Forde-
rungen in Verzweiflung brachte, trösteten sich, den Blick auf den aufgehenden
Stern gerichtet.
Der Goncourtpreis fiel durch eine gerechte Entscheidung an einen Menschen
von 47 Jahren, Marcel Proust, hob ihn aus dem Dunkel und weihte ihn, einen
Namen, von dem bisher, einige Neuropathen und Mondäne ausgenommen, nie-
mand etwas wußte. Das gekrönte Buch ,,A l’ombre des jeunes filles en fleur“
war sofort in allen Händen. Nicht allein eine unwissende Elite, die das Verschwin-
den der „Nouvelle Revue Fran<;aise“ drei Jahre lang im Dunkel gelassen hatte,
gruppierte sich um ihn, auch die Geschäftsleute, die keine Zeit zu verlieren
haben, die Jünglinge, durch lasterhafte Exerzitien in Anspruch genommen, die
adligen Witwen von vierzig Jahren, durch den gleichen Kultus geeinigt, schlossen
ihren Marcel Prevost, Willy oder ihren Bourget, um das neue Brevier zu öffnen.
Selbst das ununterbrochene Trommelfeuer vermochte das Bewunderungsgeschrei
nicht zu verhindern, das alle Grenzen durchbrach. Zwei Jahre nach dem Er-
scheinen des „A l’ombre des jeunes filles en fleur“ hatten sich schon in London
und Amsterdam Klubs gebildet, mit dem Ziel, dieses anerkannte Genie gemein-
schaftlich zu lesen und zu kommentieren. (Frankreich ist diesem Beispiel ein
wenig später gefolgt.) Und der Tod des Abgotts (im November 1922) hat,
gleich dem Gelübde einer strengen Ordensregel, diesen neu eingesetzten Kult
für immer gefestigt.
*
Wer war also dieser Marcel Proust, Name gemischt aus Anmut und Härte,
den plötzlich alle Lippen sprachen? Ich habe mir damals die Frage mit einiger
Böswilligkeit gestellt und habe sie ein wenig übereilt beantwortet: „Ich wäre
geneigt zu glauben, denn ich vermag genau genug die Biographie zu umreißen,
daß er vieles von einer alten Jungfer hat. Ehrenwert in der Kleinbourgoisie ge-
boren, erhält das Fräulein eine ausgezeichnete Schulbildung, wird Erzieherin bei
Leuten der großen Welt, Herzögen oder mit irgendwelchen regierenden Häusern
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ANDRE GERMAIN
In unseren Tagen ist nichts von Bestand. Wir haben in einem Jahr die ganzen
gefürchteten Machthaber stürzen sehen. Keines Kaisers Macht leuchtet mehr in
die Finsternis des heutigen Europa. Welche Kapriolen der konstitutionellen Mon-
archien und selbst der Republiken stehen uns noch bevor ? Staatspapiere sind die
gefährlichste Spekulation geworden, die Sitten ändern sich jahreszeitweise; bei
den Überrealisten, die alle Beunruhigten zu Rate ziehen, hat man noch nicht die
Mode des nächsten Frühjahrs bestimmt; die Frauen wissen nicht, wie sie sich im
nächsten Jahr das Haar schneiden werden.
Es gibt neue Staaten, von denen wir nicht einmal die Namen wissen,
und über deren Zukunft ich keine Wette riskieren würde. Aber ein internatio-
nales Reich ist gegründet, zu dessen Dauer ich das größte Vertrauen habe: das
Werk Marcel Prousts.
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Im November 1917 begann Schreckliches. Die bolschewistische Revolution war
ausgebrochen; viele der Leute, die sie ruinierte oder die sie durch ihre Forde-
rungen in Verzweiflung brachte, trösteten sich, den Blick auf den aufgehenden
Stern gerichtet.
Der Goncourtpreis fiel durch eine gerechte Entscheidung an einen Menschen
von 47 Jahren, Marcel Proust, hob ihn aus dem Dunkel und weihte ihn, einen
Namen, von dem bisher, einige Neuropathen und Mondäne ausgenommen, nie-
mand etwas wußte. Das gekrönte Buch ,,A l’ombre des jeunes filles en fleur“
war sofort in allen Händen. Nicht allein eine unwissende Elite, die das Verschwin-
den der „Nouvelle Revue Fran<;aise“ drei Jahre lang im Dunkel gelassen hatte,
gruppierte sich um ihn, auch die Geschäftsleute, die keine Zeit zu verlieren
haben, die Jünglinge, durch lasterhafte Exerzitien in Anspruch genommen, die
adligen Witwen von vierzig Jahren, durch den gleichen Kultus geeinigt, schlossen
ihren Marcel Prevost, Willy oder ihren Bourget, um das neue Brevier zu öffnen.
Selbst das ununterbrochene Trommelfeuer vermochte das Bewunderungsgeschrei
nicht zu verhindern, das alle Grenzen durchbrach. Zwei Jahre nach dem Er-
scheinen des „A l’ombre des jeunes filles en fleur“ hatten sich schon in London
und Amsterdam Klubs gebildet, mit dem Ziel, dieses anerkannte Genie gemein-
schaftlich zu lesen und zu kommentieren. (Frankreich ist diesem Beispiel ein
wenig später gefolgt.) Und der Tod des Abgotts (im November 1922) hat,
gleich dem Gelübde einer strengen Ordensregel, diesen neu eingesetzten Kult
für immer gefestigt.
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Wer war also dieser Marcel Proust, Name gemischt aus Anmut und Härte,
den plötzlich alle Lippen sprachen? Ich habe mir damals die Frage mit einiger
Böswilligkeit gestellt und habe sie ein wenig übereilt beantwortet: „Ich wäre
geneigt zu glauben, denn ich vermag genau genug die Biographie zu umreißen,
daß er vieles von einer alten Jungfer hat. Ehrenwert in der Kleinbourgoisie ge-
boren, erhält das Fräulein eine ausgezeichnete Schulbildung, wird Erzieherin bei
Leuten der großen Welt, Herzögen oder mit irgendwelchen regierenden Häusern
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