WEISE WOCHE BEI KEYSERLING
Von
LILY PRINGSHEIM
Probleme wie „Religion“, „Werden und Vergehen“ und bei der jetzigen
Tagung „Freiheit“ beschäftigen die Gemüter der „Schule der Weis-
heit“ und ihren Führer Grafen Hermann Keyserling. Jedes Jahr im Herbst
ist eine Tagung. Sie dauert acht Tage. Vormittags ein Vortrag, Nach-
mittags ein Vortrag. Dazwischen geistige Verdauung. Das Publikum meist
von auswärts. Viele Prinzen, Grafen, Barone, simple Adelige, auch Bür-
gerliche.
Die Weisheitswoche kostet vierzig Mark. Jeder kann Mitglied werden.
Dann ist man enger angeschlossen. Der Graf ist lebhaft, er spricht viel,
gern und sich überstürzend. Sein Spitzbart läuft fadendünn aus. Kleine,
schmale Augen, breite Backenknochen, eine Riesengestalt, der Gang
schwankend, die Gestalt durch ihre Bedeutung nach vorn geneigt. Er hat
noch baltischen Dialekt, obwohl er mit seinen Landsleuten verkracht ist.
Dafür steht in den „Mitteilungen“ der „Schule der Weisheit“, die jährlich
einmal erscheinen, daß er in Italien furchtbar berühmt und beliebt sei.
Als Beweis sind viele „bessere Leute“ zitiert, die seine Vorträge besuchten.
Der Graf wird leicht zornig, wenn gewöhnliche Menschen ihn etwas
fragen. Man muß entweder Künstler oder gelesener Schriftsteller oder bes-
serer Abstammung sein. Er ist sehr stolz, daß er behaupten kann, könig-
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