MARK TWAIN UBER SICH SELBST
Mark Twains Humor entsteht durch Überbetonung eines Erlebnisses bis zu
jener delikaten Grenze der Entstellung, jenseits deren die Karikatur
gespenstert.
Er denkt viel über seine Autobiographie nach, mit der er als schon be-
rühmter und alter Herr begann. Im Anfang hatte er die Absicht, dies Werk
erst hundert Jahre nach seinem Tode veröffentlichen zu lassen, später änderte er
diese Absicht, wenn er auch sagte:
„Bei der Niederschrift dieser Autobiographie werde ich mir immer die
Tatsache vor Augen halten, daß ich aus dem Grabe spreche. Ich spreche
wirklich und buchstäblich aus dem Grabe, denn wenn dieses Buch die Drucker-
presse verläßt, werde ich längst tot sein.
Daß ich lieber aus dem Grabe spreche, als mit lebender Zunge, hat seinen
guten Grund: denn nur so kann ich wirklich ganz freimütig sprechen.
Die Taten und Worte eines Menschen sind nur die sichtbare, dünne Kruste
um seine Welt. Eine Haut nur, die sie umschließt! Die Masse seiner
Wesenheit mit ihren wilden, brodelnden vulkanischen Feuern, die Tag und
Nacht nicht zur Ruhe kommen, sie bleibt verborgen. Dies aber, sein wirk-
liches Leben, wird nicht geschrieben und kann nicht geschrieben werden.
Jeder Tag würde ein ganzes Buch bedeuten, mit 80000 Worten — 365 solcher
Bücher im Jahr! Biographien sind nichts als die Kleider und Knöpfe dös
Menschen — die Biographie des Menschen selbst kann nicht geschrieben
werden.“ (
Mark Twain beschreibt, wo und wann es ihm einfällt, irgendeine Episode
aus seinem Leben, so daß der Chronist sich aus dem Mosaik seiner Einfälle
die historisch zusammengehörigen Bausteine heraussuchen muß.
Von seinen Vorfahren erzählt Mark Twain, dessen Familienname Cle-
mens ist:
„Die Virginischen Clemense führen ihre Vorfahren bis auf Noah zurück —
allerdings erscheint die Reihe etwas undeutlich. Der Tradition nach sollen einige
von ihnen während des elisabethanischen Zeitalters Seeräuber und Sklaven-
händler gewesen sein. Was ihnen aber keineswegs zur Unehre gereicht, denn
schließlich hatten Drake, Hawkins usw. ja den gleichen Beruf. Es war damals
ein geachteter Handelszweig, bei dem sogar Monarchen als Teilhaber fun-
gierten. Auch ich habe seinerzeit Gelüste verspürt, Seeräuber zu werden. Und
wenn der Leser ganz tief in sein eigenes Herz hineinschaut, so wird er finden —
aber kümmern wir uns nicht darum, was er dort finden wird. Schließlich
schreibe ich ja nicht seine Autobiographie, sondern meine. Wieder der Tradition
zufolge soll ein späterer meiner Vorfahren unter Jacob I. oder Charles I. Ge-
sandter am spanischen Hofe gewesen sein; er hat dort geheiratet und auf diese
Weise dem Geschlecht einen Schuß spanischen Blutes zugeführt, um es ein
bißchen aufzuwärmen.
Ich wurde am 30. November 1835 in dem fast unsichtbar kleinen Dörfchen
Florida der Provinz Monroe im Staate Missouri geboren. Ich glaube, Florida
besaß damals keine 300 Einwohner. Es hatte zwei Straßen, jede ein paar
hundert Meter lang; die übrigen Wege waren bloße Pfade, mit Hecken und
Kornfeldern zu beiden Seiten. Straßen und Wege waren beide mit dem gleichen
Material gepflastert — mit zähem, schwarzem Schmutz, wenn nasses Wetter
war, bei Trockenheit mit tiefem Staub.
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Mark Twains Humor entsteht durch Überbetonung eines Erlebnisses bis zu
jener delikaten Grenze der Entstellung, jenseits deren die Karikatur
gespenstert.
Er denkt viel über seine Autobiographie nach, mit der er als schon be-
rühmter und alter Herr begann. Im Anfang hatte er die Absicht, dies Werk
erst hundert Jahre nach seinem Tode veröffentlichen zu lassen, später änderte er
diese Absicht, wenn er auch sagte:
„Bei der Niederschrift dieser Autobiographie werde ich mir immer die
Tatsache vor Augen halten, daß ich aus dem Grabe spreche. Ich spreche
wirklich und buchstäblich aus dem Grabe, denn wenn dieses Buch die Drucker-
presse verläßt, werde ich längst tot sein.
Daß ich lieber aus dem Grabe spreche, als mit lebender Zunge, hat seinen
guten Grund: denn nur so kann ich wirklich ganz freimütig sprechen.
Die Taten und Worte eines Menschen sind nur die sichtbare, dünne Kruste
um seine Welt. Eine Haut nur, die sie umschließt! Die Masse seiner
Wesenheit mit ihren wilden, brodelnden vulkanischen Feuern, die Tag und
Nacht nicht zur Ruhe kommen, sie bleibt verborgen. Dies aber, sein wirk-
liches Leben, wird nicht geschrieben und kann nicht geschrieben werden.
Jeder Tag würde ein ganzes Buch bedeuten, mit 80000 Worten — 365 solcher
Bücher im Jahr! Biographien sind nichts als die Kleider und Knöpfe dös
Menschen — die Biographie des Menschen selbst kann nicht geschrieben
werden.“ (
Mark Twain beschreibt, wo und wann es ihm einfällt, irgendeine Episode
aus seinem Leben, so daß der Chronist sich aus dem Mosaik seiner Einfälle
die historisch zusammengehörigen Bausteine heraussuchen muß.
Von seinen Vorfahren erzählt Mark Twain, dessen Familienname Cle-
mens ist:
„Die Virginischen Clemense führen ihre Vorfahren bis auf Noah zurück —
allerdings erscheint die Reihe etwas undeutlich. Der Tradition nach sollen einige
von ihnen während des elisabethanischen Zeitalters Seeräuber und Sklaven-
händler gewesen sein. Was ihnen aber keineswegs zur Unehre gereicht, denn
schließlich hatten Drake, Hawkins usw. ja den gleichen Beruf. Es war damals
ein geachteter Handelszweig, bei dem sogar Monarchen als Teilhaber fun-
gierten. Auch ich habe seinerzeit Gelüste verspürt, Seeräuber zu werden. Und
wenn der Leser ganz tief in sein eigenes Herz hineinschaut, so wird er finden —
aber kümmern wir uns nicht darum, was er dort finden wird. Schließlich
schreibe ich ja nicht seine Autobiographie, sondern meine. Wieder der Tradition
zufolge soll ein späterer meiner Vorfahren unter Jacob I. oder Charles I. Ge-
sandter am spanischen Hofe gewesen sein; er hat dort geheiratet und auf diese
Weise dem Geschlecht einen Schuß spanischen Blutes zugeführt, um es ein
bißchen aufzuwärmen.
Ich wurde am 30. November 1835 in dem fast unsichtbar kleinen Dörfchen
Florida der Provinz Monroe im Staate Missouri geboren. Ich glaube, Florida
besaß damals keine 300 Einwohner. Es hatte zwei Straßen, jede ein paar
hundert Meter lang; die übrigen Wege waren bloße Pfade, mit Hecken und
Kornfeldern zu beiden Seiten. Straßen und Wege waren beide mit dem gleichen
Material gepflastert — mit zähem, schwarzem Schmutz, wenn nasses Wetter
war, bei Trockenheit mit tiefem Staub.
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