3. DAS MOSKAUER KINDERTHEATER
Von
DR. FANNLNA HALLE
Das Kino „Ars“ auf der Twerskaja ist jedermann in Moskau bekannt. Ab
sechs Uhr nachmittags erkennt man es schon allein an der großen Menschen-
menge, die sich dort täglich vor dem Eingänge staut. An manchen Tagen in
der Woche öffnen sich aber seine Pforten schon um einige Stunden früher, und
zwar für das darin gleichzeitig untergebrachte „Djetskij-Theater“, das Kinder-
theater, eine der vielen Erfindungen des neuen Rußland. — Dann sind es aller-
dings nur kleine, oft ganz kleine Menschlein, Proletarierkinder, im Alter von
etwa 4—14 Jahren, die da, ebenfalls in Scharen, zu ganzen sog. Arbeits-
schulen, Jugendorganisationen, Horten usw. herbeigeströmt kommen, und den
immerhin recht großen Saal mit seinen rings herumlaufenden Balkonreihen so
sehr füllen, daß sie meist zu zweit auf einem Sitzplatze zu sehen sind.
Die allgemein hochgespannte Erwartung äußert sich vor allem in einem un-
beschreiblichen Lärm. Zerknackte Sonnenblumenkörner, von denen jeder dieser
Theaterbesucher, wie immer, seine Taschen ganz voll hat, laute Zurufe, Pfiffe,
Schreie, Äpfel, Mützen fliegen in der Luft herum. — Ertönt aber auf einmal
der Kommandoruf eines drei Käse hohen „Pioniers“ oder „Komssomol’s“ — von
der jugendlich-kommunistischen Rotgarde, mit rotem Tüchel um den Hals, als
Abzeichen seiner Würde, — im Nu wird alles mäuschenstill. Doch nur für
einen kurzen Augenblick. Im nächsten geht das Gebrüll von vorne wieder los.
Nun erscheint aber vor dem geschlossenen Bühnenvorhange die Gestalt
eines sehr gütig aussehenden jungen Mannes. Es ist der pädagogische Leiter
dieses Theaters, Ssergej Rosanoff, der seine Pappenheimer mustert, wie ein
Freund, wie ihresgleichen anlächelt, und plötzlich mit ganz lauter Stimme aus-
ruft: „Tische! Ruhe!“
Im Chorus, womöglich noch lauter, wiederholt das Auditorium: „Tische!“ —
Rosanoff, im Takt, noch einmal: „Tische! Tische! Tische!“ — —
Sämtliche Kinder: „Tische! Tische! Tische!“
Rosanoff, fortfahrend: „Jetzt aber hört zu! Erstens haben wir die Regel, daß
man im geschlossenen Raum die Mützen abnehmen muß. Und zweitens darf
man auf keinen Fall mehr ,Tische' schreien, wenn das Licht an der Decke aus-
gelöscht ist. Vielmehr muß man da ganz, ganz still sitzen. — Verstanden?“
Alle auf einmal: „Verstanden!“
Rosanoff: „Was Ihr hier zu sehen bekommen werdet, ist eine italienische
Erzählung, genannt ,Pinocchio‘. Und das bedeutet auf Italienisch ungefähr
dasselbe wie Holzmännlein auf Russisch. Ja, wißt Ihr denn aber auch, wo
Italien liegt? — Das liegt da, wo die Sonne zu Mittag steht, das heißt, viel-
leicht ganze sieben Tagereisen von hier entfernt. — Und in Italien, da essen
die Leute Orangen statt Sonnenblumenkörner. Niemals Sonnenblumenkömer I
Habt Ihr für diese Vorstellung nun auch Orangen mitgebracht? Nein? Da
müßt Ihr schon auf jeden Fall jetzt die Sonnenblumenkörner, die ,Podssol-
njetschki*, einstecken. Anders geht es nicht. — Und außerdem, — soll ich Euch
den Inhalt von ,Pinocchio‘ vorher erzählen? Ja?“
Das Publikum einstimmig: „Nein, nein, das ist nicht nötig!“
„Dann wollen wir aber alle zusammen anstatt des Glockenzeichens zu Beginn
der Vorstellung eine ,Rakete' loslassen, so wie ich sie Euch vormache: Eins!
Zwei! Drei! — Und noch einmal: Eins! Zwei! Drei!“
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Von
DR. FANNLNA HALLE
Das Kino „Ars“ auf der Twerskaja ist jedermann in Moskau bekannt. Ab
sechs Uhr nachmittags erkennt man es schon allein an der großen Menschen-
menge, die sich dort täglich vor dem Eingänge staut. An manchen Tagen in
der Woche öffnen sich aber seine Pforten schon um einige Stunden früher, und
zwar für das darin gleichzeitig untergebrachte „Djetskij-Theater“, das Kinder-
theater, eine der vielen Erfindungen des neuen Rußland. — Dann sind es aller-
dings nur kleine, oft ganz kleine Menschlein, Proletarierkinder, im Alter von
etwa 4—14 Jahren, die da, ebenfalls in Scharen, zu ganzen sog. Arbeits-
schulen, Jugendorganisationen, Horten usw. herbeigeströmt kommen, und den
immerhin recht großen Saal mit seinen rings herumlaufenden Balkonreihen so
sehr füllen, daß sie meist zu zweit auf einem Sitzplatze zu sehen sind.
Die allgemein hochgespannte Erwartung äußert sich vor allem in einem un-
beschreiblichen Lärm. Zerknackte Sonnenblumenkörner, von denen jeder dieser
Theaterbesucher, wie immer, seine Taschen ganz voll hat, laute Zurufe, Pfiffe,
Schreie, Äpfel, Mützen fliegen in der Luft herum. — Ertönt aber auf einmal
der Kommandoruf eines drei Käse hohen „Pioniers“ oder „Komssomol’s“ — von
der jugendlich-kommunistischen Rotgarde, mit rotem Tüchel um den Hals, als
Abzeichen seiner Würde, — im Nu wird alles mäuschenstill. Doch nur für
einen kurzen Augenblick. Im nächsten geht das Gebrüll von vorne wieder los.
Nun erscheint aber vor dem geschlossenen Bühnenvorhange die Gestalt
eines sehr gütig aussehenden jungen Mannes. Es ist der pädagogische Leiter
dieses Theaters, Ssergej Rosanoff, der seine Pappenheimer mustert, wie ein
Freund, wie ihresgleichen anlächelt, und plötzlich mit ganz lauter Stimme aus-
ruft: „Tische! Ruhe!“
Im Chorus, womöglich noch lauter, wiederholt das Auditorium: „Tische!“ —
Rosanoff, im Takt, noch einmal: „Tische! Tische! Tische!“ — —
Sämtliche Kinder: „Tische! Tische! Tische!“
Rosanoff, fortfahrend: „Jetzt aber hört zu! Erstens haben wir die Regel, daß
man im geschlossenen Raum die Mützen abnehmen muß. Und zweitens darf
man auf keinen Fall mehr ,Tische' schreien, wenn das Licht an der Decke aus-
gelöscht ist. Vielmehr muß man da ganz, ganz still sitzen. — Verstanden?“
Alle auf einmal: „Verstanden!“
Rosanoff: „Was Ihr hier zu sehen bekommen werdet, ist eine italienische
Erzählung, genannt ,Pinocchio‘. Und das bedeutet auf Italienisch ungefähr
dasselbe wie Holzmännlein auf Russisch. Ja, wißt Ihr denn aber auch, wo
Italien liegt? — Das liegt da, wo die Sonne zu Mittag steht, das heißt, viel-
leicht ganze sieben Tagereisen von hier entfernt. — Und in Italien, da essen
die Leute Orangen statt Sonnenblumenkörner. Niemals Sonnenblumenkömer I
Habt Ihr für diese Vorstellung nun auch Orangen mitgebracht? Nein? Da
müßt Ihr schon auf jeden Fall jetzt die Sonnenblumenkörner, die ,Podssol-
njetschki*, einstecken. Anders geht es nicht. — Und außerdem, — soll ich Euch
den Inhalt von ,Pinocchio‘ vorher erzählen? Ja?“
Das Publikum einstimmig: „Nein, nein, das ist nicht nötig!“
„Dann wollen wir aber alle zusammen anstatt des Glockenzeichens zu Beginn
der Vorstellung eine ,Rakete' loslassen, so wie ich sie Euch vormache: Eins!
Zwei! Drei! — Und noch einmal: Eins! Zwei! Drei!“
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