Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt
— 5.1925
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https://doi.org/10.11588/diglit.63706#0927
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Zuckmayer, Carl: Zwei Gedichte
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ZWEI GEDICHTE
Von
CARL ZUCKMAYER
DER BAUM
Ein Baum wuchs auf aus einem Bruch im Sumpf,
Wo es nach Pilz und bittrem Laube roch.
Erst brach ein Trieb aus längst verfaultem- Stumpf,
Auf dem die Liechte wie ein grauer Aussatz kroch.
Dann schoß ein wildes Heer von Trieben hoch,
Und war ein Kampf nach Licht und eine Schlacht um Erde.
Wer starb, verfaulte bald, daß seine Leiche noch
Zu Trank und Speise für die andren werde.
Im Boden ward ein dunkles Wurzelregen,
Viel harte Fasern kämpften Schritt für Schritt,
Und Sonne, Wind und Regen kämpften mit,
Und Tag und Nacht ein Sieg und Mond und Jahr ein Segen.
Saft stieg empor und Feuchte rann hernieder,
Die Stürme ritten auf dem jungen Baum,
Und rasten weh um seine kühlen Glieder,
Und laue Luft war geil um seiner Knospen Flaum.
Insekten lebten viel in seinem Innern,
Und viel in seiner Krone breiter Trift,
Unter der Rinde kroch wie schweres Sicherinnern
Des Borkenkäfers rätselvolle Schrift.
Und Moos und Mistel blieben ihm verschwistert,
Als um ihn her der letzte Schößling starb.
Was ihm zu Füßen um den Himmel warb,
War längst von seiner Himmelsgier verdüstert.
Wie Mond und Sterne ihn gesegnet haben,
Wie Schnee ihn barg und Frost zerbrach ihn nicht —
Oft war sein Stamm in dickste Nacht vergraben,
Doch seine Krone schwamm in grünem Licht.
619
Von
CARL ZUCKMAYER
DER BAUM
Ein Baum wuchs auf aus einem Bruch im Sumpf,
Wo es nach Pilz und bittrem Laube roch.
Erst brach ein Trieb aus längst verfaultem- Stumpf,
Auf dem die Liechte wie ein grauer Aussatz kroch.
Dann schoß ein wildes Heer von Trieben hoch,
Und war ein Kampf nach Licht und eine Schlacht um Erde.
Wer starb, verfaulte bald, daß seine Leiche noch
Zu Trank und Speise für die andren werde.
Im Boden ward ein dunkles Wurzelregen,
Viel harte Fasern kämpften Schritt für Schritt,
Und Sonne, Wind und Regen kämpften mit,
Und Tag und Nacht ein Sieg und Mond und Jahr ein Segen.
Saft stieg empor und Feuchte rann hernieder,
Die Stürme ritten auf dem jungen Baum,
Und rasten weh um seine kühlen Glieder,
Und laue Luft war geil um seiner Knospen Flaum.
Insekten lebten viel in seinem Innern,
Und viel in seiner Krone breiter Trift,
Unter der Rinde kroch wie schweres Sicherinnern
Des Borkenkäfers rätselvolle Schrift.
Und Moos und Mistel blieben ihm verschwistert,
Als um ihn her der letzte Schößling starb.
Was ihm zu Füßen um den Himmel warb,
War längst von seiner Himmelsgier verdüstert.
Wie Mond und Sterne ihn gesegnet haben,
Wie Schnee ihn barg und Frost zerbrach ihn nicht —
Oft war sein Stamm in dickste Nacht vergraben,
Doch seine Krone schwamm in grünem Licht.
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