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Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt — 10.1930

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Heft 2
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An-Ski, S.: Der Charakter Clemenceau: Persönliche Erinnerungen
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https://doi.org/10.11588/diglit.73550#0126

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französische Regierung, die dem zaristischen Botschafter entgegenkommen
wollte, häufig die russischen politischen Emigranten. In solchen Fällen pflegte
man sich zu allererst an Clemenceau zu wenden, der sofort von seinem mächtigen
Einfluß Gebrauch machte, um den Betroffenen Hilfe zu leisten. Einzig und allein
dank seiner energischen Intervention unterließ die französische Regierung eine
Auslieferung des berühmten Terroristen Hartmann an Rußland. Mit der russi-
schen Emigrantenkolonie verkehrte Clemenceau durch den Patriarchen der
russischen Revolution und Theoretiker des revolutionären „Narodnitschestwo"
(Volksbewegung), Peter Lawrow. Nach Al. Herzen galt Lawrow als der mar-
kanteste Vertreter des revolutionären Rußland in West-Europa. Clemenceau war
mit Lawrow sehr befreundet, den er hoch schätzte als großen Denker und höchst
moralische Persönlichkeit. Lawrow seinerseits achtete Clemenceau sehr als her-
vorragenden Politiker, Journalisten und Redner. Wenn sie irgendwo beide
zusammentrafen, befaßten sie sich nur selten mit politischen Themen; gewöhnlich
unterhielten sie sich über Philosophie, Literatur und Kunst.
Clemenceau stand schon damals in den ersten Reihen der aktiven Politiker;
man nannte ihn „Ministerstürzer". Aber damit erschöpfte sich noch keineswegs
das Wesen seiner originellen Persönlichkeit. Gleichzeitig mit seiner politischen
Tätigkeit spielte Clemenceau eine bedeutende Rolle in den Logen der Freimaurer
(Francmasons). Er befaßte sich mit theosophischen Fragen und bekannte sich
offen als rechtgläubigen Buddhisten. Während des buddhistischen Gottesdienstes
in „Musee Guimet" (Pariser Museum der Religionen des Ostens), der durch
einen Lama aus Tibet verrichtet wurde (es war der erste Tibetaner, der Europa
besuchte), befand sich Clemenceau unter den andächtigen Buddhisten, hielt seine
Hand an dem ausgespannten rituellen Fädchen und betete zugleich mit den
übrigen Bekennern Buddhas.
In Lawrows Arbeitszimmer, wo ich zum erstenmal mit Clemenceau zusammen-
traf, sprach dieser in ruhigem Ton, langsam, verträumt. Fragen der Religion
und Moral behandelte er auf weiter Grundlage, pantheistisch. Überhaupt be-
rührte Clemenceau alle Dinge mit raffinierter Subtilität und Eigenartigkeit,
welche bei ihm in ungemein edlem und doch sehr bissigem Humor Ausdruck
fanden, der an Tiefe sogar den Anatole Frances übertraf. Lawrow sagte mir einst
über Clemenceau: „Er ist selbstverständlich ein großer Politiker, doch bezweifle
ich, ob er jemals Volkstribun werden wird. Er ist allzu aristokratisch in seiner
Denkart und allzu großer Individualist dazu. Für gemeine Popularität interessiert
er sich wenig. Er nennt sich ,radikaler Sozialist', in Wirklichkeit aber ist er
intellektueller Anarchist."
Clemenceau zeigte sich von Anfang an als entschiedener Gegner des Bünd-
nisses mit dem barbarischen Rußland. Während der Festlichkeiten, die anläß-
lich des Besuches eines russischen Marinegeschwaders in Frankreich und nachher
zu Ehren des Zarenbesuches in Paris stattfanden, war die Bevölkerung dermaßen
von Sympathie für Rußland durchdrungen, daß nicht einmal die Sozialisten mit
offenen Kundgebungen gegen den Zaren hervorzutreten wagten. Nur Clemenceau
war rücksichtslos und schrieb einen wuchtigen Artikel „Wider den Alleinherrscher
Frankreichs". Der Artikel schloß mit den Worten: „Jawohl! Es lebe das Bündnis
Frankreichs mit Rußland! Aber mit einem Rußland der Lawrows und Krapotkins,

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