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Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt — 10.1930

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Heft 4
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Pringsheim, Klaus: Zustand heutiger Musik
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https://doi.org/10.11588/diglit.73550#0341

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berg, nicht einmal auf ihn kann man sich verlassen, und setzt so ein Stück poly-
phonen Bach — Präludium und Fuge in Es — für Orchester: aber was ist das
für ein infames Riesenorchester, mit Harfe, Celesta, Glockenspiel, Triangel,
Xylophon und allen Rauschgiften der entarteten Vergangenheit. Ach, und
überhaupt wird sich nicht mehr lange vertuschen lassen, daß dieser Schönberg im
Grunde ein hundertprozentiger Romantiker ist, ein klinischer Fall von Romantik,
ein Pfitzner-Typ, Gott weiß aus welchem Versehen in die neue Zeit geraten.
Schlechte Zeiten für Stuckenschmidts! Dies Jahrzehnt Neue Musik ist ein
fortwährendes Desavouieren ihrer eigenen Dogmen gewesen, ein erfrischend
rücksichtsloses Brüskieren und Blamieren ihrer publizistischen Wegbereiter.
Auch die Jungen fallen ab, einer nach dem andern. Allenfalls noch in der Kammer-
musik, in Atelierarbeiten, wird die Fiktion respektiert, daß Grundsätze zu
verfechten sind. Dort aber, wo die wichtigen Entscheidungen fallen, in der Oper,
werden sie offen preisgegeben, herrscht Ratlosigkeit, Überzeugungslosigkeit,
Willkür, Anarchie — und bestenfalls Talent.
Schon im aufspielenden „Jonny", eben noch die Konjunktur der Aktualität
Jazz nutzend, paktiert Krenek herzhaft-ungeniert mit allen reaktionären Mächten
des Erfolgs; im „Heimlichen Königreich" schlägt er Humperdinck-Töne an,
und im „Leben des Orest" macht er Große Meyerbeer-Oper — was zwar
sozusagen modern ist, weil es vorwagnerisch ist, aber den Modernitätstrick und
den Effekt, den er sich davon verspricht, bezahlt er mit dem letzten Rest der
revolutionären Musikgesinnung, mit der er einst auszog. Und nun gar, als Epi-
sode, dieses „Reisebuch aus den österreichischen Alpen", privateste Lyrik, ein
schubertisch gemeinter Liederzyklus, es ist vollendeter Hochverrat. Entscheidend
für den Opernkomponisten wird die Stoffwahl; Hindemith, konzessionslos im
Musikalisch-Formalen, greift nach einer Hoffmann-Figur, die Marschner sich als
Helden hat entgehen lassen, dieser Cardillac ist ein Prachtexemplar freudisch zu
durchleuchtender Seelenfinsternis; aber der Musiker schert sich nicht um das
Kritikergeschwätz, das die zweifache Abkehr von Romantik und Individual-
psychologismus als Vorbedingung der Opernerneuerung fordert. Die Musik
der Oper, heißt es, soll von der literarischen Versklavung befreit werden, aber
man setzt Wedekind, Strindberg, Büchner, Lenz unter Opernmusik, in der Idee
nicht anders, als vor zwanzig, dreißig Jahren Maeterlinck oder Wilde durch-
komponiert wurden. Kurt Weill tut es nicht unter Georg Kaiser und Bert
Brecht als Opernlibrettisten, und er weiß warum. Und alle Schaukünste werden
aufgeboten, um die hilfsbedürftige Musik zu stützen; wo Wagner noch mit
Dämpfen und Schleiern sein Auskommen finden mußte, haben sie heute den
Film. Die Oper wird wieder „Gesamtkunstwerk".
Alles kommt wieder, und alle kommen wieder. Wagner ist premierenreif,
sein Musikdrama, als Musizieroper neu zu entdecken, wird eine aktuelle An-
gelegenheit des heutigen Operntheaters — nach Händel, dessen Renaissance ein
Reinfall war; neben Verdi, von dessen frühen Opern nun der Weg zum frühen
Wagner führt, wie einst, umgekehrt, über Bayreuth der Weg zum späteren
Verdi. Die vielen Renaissancen sind verdächtig; man brauchte sie nicht, wenn
die Lebenden brauchbarer lieferten. Alles kommt wieder; in Berlin halten wir
gerade bei „Mignon" und beim „Postillon von Lonjumeau"...

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