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Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt — 10.1930

DOI issue:
Heft 5
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Rothe, Hans: Lob Lepizigs
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https://doi.org/10.11588/diglit.73550#0446

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Leipziger Dialekts nichts mit den gerühmten Eigenschaften der Mundart zu
schaffen hat, die von der übrigen Bevölkerung gesprochen wird. In der Probe
sitzen die Leute, die der Musik wegen kommen, sitzen die Interessierten und
Gebildeten, die Regsamen und die Bescheidenen, kurz die Elite derer, auf die
jeder angewiesen ist, der sich in Leipzig um das geistige Leben kümmert. Von
der Direktion wird dieses Publikum als zweitrangig angesehen, denn die Direk-
tion liegt in den Händen der Zweihundertjährigen, die sich in den Prunkfauteuils
ihrer geräumigen Loge gern von des Tages Last und Mühe ausruhen. Durchreisende
Fürstlichkeiten sind dort gern gesehene Gäste, während dem Reichspräsidenten
Ebert laut Beschluß diese Loge verschlossen wurde, und er, als ohnehin nicht
ebenbürtiger Gewandhausgast, unter dem übrigen Volk sitzen mußte. Auf dem
Probenpublikum also basiert das geistige Leben der Stadt. Es läßt sich führen
und wünscht anzuerkennen. So konnte es geschehen, daß durch die
Energie eines plötzlich nach Leipzig berufenen Mannes die Leipziger Oper inner-
halb weniger Jahre zur ersten deutschen Provinzoper aufrücken konnte. Es läßt
sich kaum ein Werk der neuesten Opernliteratur nennen, das in Leipzig nicht
seine Uraufführung erlebt hätte. Wenn gelegentlich ein solches Werk auf Wider-
stand stößt, gibt es Meinungskämpfe zwischen Direktor und Publikum, hinter
denen beide Teile in gleicher Weise plötzlich Angst und Unsicherheit verbergen.
Der musikalische Sinn der Bevölkerung ist groß. Es hat sich noch nicht ver-
wischen lassen, daß hier einmal das Zentrum deutscher protestantischer Kirchen-
musik war, daß Bach hier die Hauptzeit seines Lebens verbracht hat. Tatsächlich
wird Bach noch heute in Leipzig aufgeführt wie in keiner anderen Stadt. Nur
hier ist er wirklich populär: allwöchentlich singt der Thomaner-Chor seine
Motetten, jeden Sonntag führt er eine seiner zahllosen Kantaten auf — seit
beinahe zwei Jahrhunderten, und wenn einmal das Programm dieser Konzerte,
die unentgeltlich sind, kein Werk von Bach aufweist, selbst kein Orgelvorspiel
von ihm, dann ist das Konzert im Bewußtsein der Hörer nicht ganz vollwertig.
Jede andere Stadt würde sich aus dieser Tatsache große Lorbeeren winden,
würde in Prospekten auf ihren Bach-Kult hinweisen und Amerikaner damit
über den Ozean locken — in Leipzig wird darüber kaum geredet, und das
macht die Tatsache erst eigentlich wertvoll.
Leipzig verfügt über eine glänzend organisierte Sozialdemokratie, die besonders
für das geistige Wohl ihrer Mitglieder Vorbildliches leistet. Ebenso wenig ist
die Judenschaft zu übersehen, deren wohlhabendste Mitglieder noch immer, wie
seit Jahrhunderten, in Kaftan und Ringellocke an den Ecken des Brühls stehen,
während die Gegend vom beißenden Geruch tausender und abertausender
magazinierter Felle erfüllt ist.
Oberflächliche Reisende haben gelegentlich die Meinung geäußert, daß in
Leipzig die Großstadt aufhöre, sobald man den Bahnhof verlasse und die Straße
betrete. Hinter dieser Auffassung kann sich nur ein gewaltiges Kompliment für
den Bahnhof verbergen. Man hat ferner geäußert, daß Leipzig aufgehört habe,
ein Klein-Paris zu sein, und daß heute weder Leibniz, noch Lessing, noch Gott-
sched dort wohne. Dieser an und für sich unbestreitbaren Beobachtung kann
man nur entgegenhalten, daß die Wichtigkeit einer Großstadt heute selbst von
einem neuen Lessing nicht mehr bestimmt würde.

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