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Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt — 10.1930

DOI issue:
Heft 8
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Rost, Nico: Der Sträfling Verlaine
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https://doi.org/10.11588/diglit.73550#0807

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und Sittenlehren". Das ist das einzige, was der Strafgefangene hier lesen kann, das
einzige, was er den ganzen Tag vor Augen hat, und was er daher, ob er will oder
nicht, immer und immer wieder lesen muß. Hat auch Verlaine es lesen müssen?
Der Direktor bleibt die Antwort schuldig und weiß nur mitzuteilen, daß diese
„Sprüche und Sittenlehren" beim Inkrafttreten des neuen Sprachgesetzes sogleich
auch ins Vlämische übersetzt wurden, so daß sie nun ihren Einfluß gleichermaßen
auf Vlamen und Wallonen ausüben können. Die Anzahl der banalen pädagogischen
Anweisungen geht ins Unendliche, und kurz war nur die Zeit, in der es mir mög-
lich war, einige zu notieren. Man legt den Gefangenen ans Herz: „Unrecht Gut
gedeihet nicht!"; warnt ihn vor Vergnügungen, denn „Lust bringt Leid!"; er-
mahnt ihn, sparsam mit den Stunden umzugehen; „Nütze die Zeit und nütze sie
gut!"; fordert ihn auf, vor allen Dingen nie untätig zu sein, denn „Im Schweiße
deines Angesichtes sollst du dein Brot essen!"; und erteilt ihm sogar den Bume-
rang-Rat „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!". In jeder Zelle hängt
neben diesen Sprüchen der Gekreuzigte — einerlei, ob Christ oder Jude sie be-
wohnt. Vor diesem Kruzifix in der Ecke von Nummer 1 hat Paul Verlaine gekniet,
als der Direktor ihm unerwartet die Nachricht brachte, daß das ,Tribunal Civil de
la Seine' die Scheidung zwischen ihm und seiner Ehefrau Mathilde Maute aus-
gesprochen habe; sein Junge — er ist 1927 als Schaffner der Pariser Untergrund-
bahn gestorben — war der Mutter zugesprochen worden. Eine Stunde, nachdem
er diesen Bericht empfangen hatte, bat er den Beichtvater zu sich. Dieser brachte
auf seinen Wunsch einen Katechismus, „Le Catechisme de Perseverance" des
Monseigneur Gaume (ein Katechismus für Erwachsene). Verlaine gewann seinen
Glauben wieder; er flüchtete aus der grausamen Wirklichkeit in die Nebel der
Religion. Die melodischste Dichtung der französischen Literatur — „Sagesse" —
war die Folge.
Man atmet in der Zelle 1 die dumpfe Atmosphäre von Trostlosigkeit und Unter-
drückung und richtet seinen Blick vom Kruzifix auf die schweren Riegel, das ver-
gitterte Fenster, das kleine Guckloch, die kalten Wände. Und man wundert sich,
daß dieser begnadete Dichter nirgends in seinen Versen gegen die gültige Lebens-
ordnung aufbegehrte. Mit keiner Zeile verriet er, daß er seine Umgebung be-
griffen hatte. Er schien nicht zu wissen, daß in den Nachbarzellen Menschen
schmachteten und sich leidenschaftlich nach Freiheit sehnten. Er beschäftigte sich
ausschließlich mit seinem eigenen Seelenheil und bekümmerte sich nicht im ge-
ringsten um seine dreihundert Leidensgenossen. Es gibt nur wenig Gefängnis-
erinnerungen, die denen von Verlaine gleichen. Der Dichter fühlte sich in seiner
Zelle vollkommen behaglich, kam sich sogar in den Gefängniskleidern elegant
vor und wäre gern länger geblieben, wenn seine Mutter nicht nach ihm verlangt
hätte. Hier war er geborgen gegen die vielerlei Verführungen der Außenwelt.
Seine Strafhaft war eine unfreiwillige, aber eine als Wohltat empfundene Flucht
aus dem Leben.
Der Strafgefangene Nummer I, der heute die Zelle bewohnt, teilt solche An-
schauungen nicht. Er ist wegen Einbruchs in die Kontore der Bank von Hornu-
Wasmes zu drei Jahren verurteilt. Auf die Frage, ob er wisse, wer Paul Verlaine,
sein großer Vorgänger in dieser Zelle, gewesen sei, antwortet er: „War das ein
Revolutionär?" Was ich mit bestem Gewissen verneine.

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