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Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt — 10.1930

DOI issue:
Heft 11
DOI article:
Sarfatti, Margherita: Individualismus und Faschismus
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https://doi.org/10.11588/diglit.73550#1089

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Schäfer-Ast

starke soziale Gefahr bedeutete, die
immer mehr die Autorität des Staates,
dieses Mitteldings zwischen Feudal- und
Voksstaat, untergrub.
Ich leugne keineswegs, daß der Fa-
schismus wie jede höhere und voll-
kommene Staatsform vom Individuum
Opfer und zwar oft schwere Opfer an
äußerer Bequemlichkeit, überschäumen-
der und ungestümer Lebenshandhabung
fordert: Er verlangt strengste Diszi-
plin. Als solche ist er gleichzeitig den
Massen Schutz und Halt, eine Schule,
welche die Starken stärkt. Wahrhaft
eminente Persönlichkeiten haben nichts
von ihm zu befürchten. Ich leugne auch
nicht, daß es beispielsweise sehr bequem

ist, Beine und bestaubte Füße in der Eisenbahn auf die Sitze zu legen, die
für Mitreisende bestimmt sind. Ich glaube aber nicht, daß dies oder ähnliches
wirkliche Freiheit genannt werden kann.
Sicherlich ist es auch viel bequemer, keinen Militärdienst zu leisten, die Hoch-
schule für Leibesübungen und die Artillerieschule nicht zu absolvieren. Für die
Studenten ist es viel bequemer, herumzulungern und erleichterte Examina zu
fordern, als ernsthaft zu studieren. Es ist viel bequemer, mitten auf der Straße zu
gehen und an Straßenkreuzungen stehen zu bleiben, um die Zeitung zu lesen,
anstatt den von Menschen überfüllten Bürgersteig zu benutzen. Anderen Ge-
dankengängen zufolge ist es bequem und amüsant, die eigene Regierung zu
beschimpfen, über offizielle Personen und Zustände Witze zu reißen und dann
nach Herzenslust die Regierung des eigenen Landes in den Zeitungen zu ver-
höhnen.
Bilden nun alle diese Bequemlichkeiten einen wesentlichen Bestandteil der
freien menschlichen Willensbestimmung und jener moralischen Freiheit, ohne
welche der Unternehmungsgeist des Individuums hinsiecht und erstickt, wenn er
nicht gar völlig zugrunde geht? Dienen sie nicht vielmehr den Mittelmäßigen
und Gewalttätigen, den Aufrührern, den eigenmächtigen, unruhigen, arrivierten
und anmaßenden Unheilstiftern als Ausrede?
Der wahre Individualismus dokumentiert sich auf andere Weise, unter wesent-
lich anderen Voraussetzungen von Freiheit und Überlegenheit individuellen
Handelns, selbst wenn er im Widerspruch steht zu seiner Umgebung — dann
allerdings in ganz anderen Formen. Nietzsche, der große Philosoph des Ichs,
verstand besser als jeder andere die Bedeutung, Macht und fatale Notwendigkeit
einer Kollektiv-Disziplin, sei sie auch unter gewissen Umständen gewaltsam
erzwungen: Echte, überlegene Persönlichkeit kann trotz äußeren und formalen,
unvermeidbaren und heilsamen Zwanges tiefe Spuren eingraben. Sie vermag
Denken und Handeln starker Charaktermenschen derart zu beeinflussen, daß ihre
Freiheit und moralische Superiorität zu voller Blüte gelangt.
(Deutsch von Rita Thurneiser.)

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