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Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt — 10.1930

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Heft 12
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Rudinoff, Willy: Wedekind unter den Artisten
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https://doi.org/10.11588/diglit.73550#1219

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Daß Wedekind mich in seinem Lustspiel
„Liebestrank" geschildert haben soll, ist eine
dumme Cafehauserfindung. Zu viel Ehre, ihr
Herren, zu viel Ehre! Ich wünsche nicht, als
„Schwiegerling" in Ihre sogenannte deutsche
Literatur überzugehen! — Richtig ist, daß ich
einmal in einer russischen Aristokratenfamilie
gelebt habe. Das war während der Jahre 1893
bis etwa 1895. Wedekinds „Liebestrank" aber
war schon 1892 von ihm zur Aufführung fertig
in Berlin eingereicht worden. Ich kam im No-
vember 1892 zum erstenmal nach Paris und
lernte einige Monate später meine russische
Familie in Cannes kennen. Die Handlung seines
Lustspiels hat auch nicht die allergeringste
Ähnlichkeit mit dem, für mein ganzes weiteres


W. Rudinoff, Selbstbildnis

Leben bedeutsamen und tief ernsten russischem Erlebnis. Die Figur des
Schwiegerling ist von Wedekind frei erfunden.
Der gute, liebe Frank Wedekind! Als wir einmal mit seinem Bruder Donald
in einem Berliner Restaurant zu Mittag aßen und Donald sich für einen Moment
entfernte, flüsterte mir Frank zu: „Sprich bitte nicht von erblicher Belastung in
Donalds Gegenwart. Er ist geistig nicht ganz normal! Sein Großvater starb im
Irrenhaus!" Der arme Frank dachte nicht daran, daß sie beide einen gemeinsamen
Großvater gehabt hatten! Als Donald sich in Wien erschossen hatte, erhielt ich
von Wedekind eine Postkarte, deren Inhalt vielleicht für den Wedekind-Forscher
von Interesse ist.
Lieber Freund, ich danke Dir bestens für Deine freundlichen Grüße aus Paris,
auch für die außerordentliche feine Postkarte. Ich komme eben aus Wien von der
unerwarteten Lösung eines Lebensräthsels. Im Herbst siedle ich nach München über.
Wenn Du im Lauf des Sommers noch nach Berlin kommst, dann besuche mich
doch bitte. Mit herzlichsten Grüßen
Dein
Frank Wedekind
Berlin den 17. 6. 08. 125. Kurfürstenstraße

In seiner im „Pan" erschienenen Autobiographie erzählt Wedekind:
1888 reiste ich ein halbes Jahr lang als Sekretär mit dem Circus Herzog und
ging nach dessen Auflösung mit meinem Freunde, dem bekannten Rudinoff, nach
Paris und begleitete ihn als sein Mitarbeiter auf einer Tournee durch England und
Südfrankreich. 1890 kehrte ich mit Rudinoff nach München und schrieb dort mein
erstes Buch „Frühlings Erwachen" — -
Mein lieber Freund Frank ist weder mit dem Zirkus „Herzog" noch je mit mir
gereist! Wir wollen ihm diese kleine Abweichung von der Wirklichkeit nicht ver-
übeln. Er wollte seinem Leben, das so gar nichts „Abenteuerliches" aufzuweisen
hatte, einen — in diesem Fall etwas unechten — Goldglanz von Indianerromantik
anpolieren. Er hatte aber nur das Schaumgold seiner Quartanerphantasie zur
Verfügung, Reste des' Märchenglanzes, womit seine liebe Mama die Äpfel und
Nüsse für Franks Weihnachtsbäumchen einmal vergoldet hatte ...

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