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Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt — 12.1932

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Polgar, Alfred: Krise und Privatleben
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Fleißer, Marieluise: Krise und Privatleben
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https://doi.org/10.11588/diglit.73728#0196

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Krise und Privatleben

Von
AIfred Polgar
Daß es allen oder zumindest den
meisten schlecht geht, befreit von
vergeblicher Mühe, bei andern Hilfe zu
suchen. Sehr viel Kränkung und De-
mütigung erspart man sich so, sehr viel
Hader mit dem eigenen Gott, dem man
nicht vorwerfen kann, daß der des
Nachbarn besser sei. Wo alles jammert,
schafft Jammern keine Erleichterung;
vom Mitgefühl, das sich manche viel-
leicht noch leisten können, käme ja
auch nur ein so verschwindend ge-
ringes Bruchteilchen auf den Einzelnen!
*
Wedekind sagt: Das Leben ist eine
Rutschbahn. In Krisenzeiten wie jetzt
erweist das Diktum seine Richtigkeit.
Überall neigen sich die Ebenen und
werden schief, die Technik des Hinab-
gleitens vervollkommnet sich, jeder
kommt dran, und da es in der mensch-
lichen Natur liegt, noch aus dem
Schlechten Gutes herauszuholen, finden
viele langsam Geschmack an der
Rutschpartie. „Dalles muß lustig sein",
sagt man in Wien.
*
Geteiltes Leid ist halbes, also ist mit
Millionen geteiltes nur noch millionstel
Leid. Elendes Wetter, das du hast,
ärgert dich naturgemäß viel weniger,
wenn überall der Himmel finster ist und
überall der graue Regen niedergeht.
*
Das Glück ist abgebaut und somit
auch der Neid. Die Möglichkeiten sind
klein geworden und somit auch die
Wünsche. Die Hoffnungen sind auf ein
Mindestmaß reduziert und somit auch
die Enttäuschungen. Daß die Zukunft
so dunkel ist, macht die dunkle Gegen-

Von
Marieluise Fleißer
Quo usque tandem abutere Catilina
patientia nostra?
Mein Catilina, gegen den diese Rede
geführt wird, ist nur ein Symbol. Er ist
keineswegs jener Schurke aus dem
klassischen Altertum. Mein Catilina ist
ein Phantom, ein Dämon mit gieriger
Schnauze, der unsichtbar jeden be-
lauert, ihm die besten Bissen aus der
Hand frißt, ehe er sie zum Munde
führen kann, und ihm den Lohn für
seine Arbeit stiehlt.
Quo usque tandem... Ich spreche
von unserem Beruf. Wie lange noch
werden Dichter verhungern und darben
müssen, ohne daß jemand überhaupt
Notiz von ihrem Leiden nimmt? Wie
lange noch wird man dem Künstler den
kargen Obolus für seine Werke in
einem Maße kürzen, wie man es niemals
den Organisationen der Gewerkschaften
und Beamtenverbände zumuten würde,
die gegen jeden Pfennig Kürzung ihres
Einkommens eine breite Front bilden?
Wie lange noch wird man großzügig
Millionen für Korruptionsfälle und
Skandalprozesse opfern und für Stif-
tungen und Preise um Kunst und
Künstlers willen mit jedem Markstück
knausern? Es ist kein Zufall, daß eine
bekannte Malerin, Großnichte Menzels,
der berühmten kleinen Exzellenz, weit
hörbar ankündet, Bilder, also Kunst-
werke, Produkte eines schöpferischen
Geistes, gegen Sachen zur täglichen
Nahrung eintauschen zu wollen, und
eine andere Malerin mit immerhin nicht
so unbekanntem Namen für das Porträt
eines berühmten Zeitgenossen, an dem
sie mit besonderer Sorgfalt mehrere
Monate arbeitet, gerade soviel Honorar

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