Psychoanalyse des Struwelpeters
Von
Ronald A. Knox
FALL I. Peter .. ., sechs Jahre, von seinen Kameraden „Struwelpeter" genannt.
Weigert sich hartnäckig, seine Haare und Fingernägel schneiden zu lassen,
welche dementsprechend in erstaunlichem Maße gewachsen sind. Statt seinen
Entschluß gutzuheißen oder ihm irgend zu helfen, versäumen die Eltern keine
Gelegenheit, ihm ihren krankhaften Widerwillen gegen seine Etscheinung aus-
zusprechen. Mein erster Eindruck war natürlich, daß er eigentlich ein Mädchen
sein will; doch seine Hartnäckigkeit in bezug auf Nägel scheint diese Hypothese
nicht zu unterstützen. Ich habe ihn vorläufig notiert als einen Fall von Nerven-
schock, hervorgerufen durch Granatfeuer, wobei die Kompensierung folgenden
Weß gegangen sein mag: die Nägel suggerieren natürlich die Granatsplitter und
das lange Haar den Schock. Andrerseits ist keine positive Evidenz vorhanden,
daß er jemals unter Artilleriefeuer gestanden hat. Möglicherweise ist er lediglich
ein Fanatiker des Wachstums — es gibt so etwas wie Vegetative Hypertrophie.
Ich habe den Eltern gesagt, daß seine Wünsche in dieser Richtung peinlichst
respektiert werden müssen; das ist seine einzige Rettung.
FALL II. Friedrich .. ., neun Jahre. Ließ seit frühester Jugend Symptome von
fälschlich sogenannter „Grausamkeit" erkennen, indem er mit bemerkens-
werter Agilität Fliegen fing und diesen dann die Flügel ausriß. Sodann schritt er
zur Tötung von Vögeln fort, sowie — ein bezeichnender Charakterzug — zum
Zerbrechen von Stühlen. Erst als er die Hauskatze die Treppe hinunterwarf,
begannen seine Eltern zu fürchten, daß hier etwas nicht in Ordnung sei; es ist
außerordentlich zu bedauern, daß sie nicht sogleich einen psychologischen
Experten zu Rate gezogen haben. Denn bis zu diesem Punkt war die Perversion
ja höchst einfach: ein ganz gewöhnlicher Gravitations-Komplex. Doch ein Jahr
oder zwei vor seiner Geburt war eine Tante
von ihm als Augenzeugin mit knapper Not
einer Aeroplan-Katastrophe entgangen, und
daher ist die ganze Idee des Fliegens dem
Unterbewußten des Knaben höchst abstoßend.
Die Fliegen müssen ihrer Flügel beraubt wer-
den; die Vögel, weniger leicht zu verstümmeln,
müssen geradezu den Tod finden. Seine Leiden-
schaft stürzt sich sogar auf Stühle, weil diese
ebenfalls die menschlichen Wesen vor Zu-
bodenfallen bewahren. Eine krankhafte Neu-
gierde seinerseits beharrt auf dem Wunsch, die
Katze aviatische Experimente machen zu lassen.
Darauf aber scheint jedenfalls eine plötzliche
Transferenz ihn in die Richtung der Flagello-
manie gedrängt zu haben. Er peitscht zuerst die
Kinderfrau, Gretchen .. ., welche zusammen-
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Von
Ronald A. Knox
FALL I. Peter .. ., sechs Jahre, von seinen Kameraden „Struwelpeter" genannt.
Weigert sich hartnäckig, seine Haare und Fingernägel schneiden zu lassen,
welche dementsprechend in erstaunlichem Maße gewachsen sind. Statt seinen
Entschluß gutzuheißen oder ihm irgend zu helfen, versäumen die Eltern keine
Gelegenheit, ihm ihren krankhaften Widerwillen gegen seine Etscheinung aus-
zusprechen. Mein erster Eindruck war natürlich, daß er eigentlich ein Mädchen
sein will; doch seine Hartnäckigkeit in bezug auf Nägel scheint diese Hypothese
nicht zu unterstützen. Ich habe ihn vorläufig notiert als einen Fall von Nerven-
schock, hervorgerufen durch Granatfeuer, wobei die Kompensierung folgenden
Weß gegangen sein mag: die Nägel suggerieren natürlich die Granatsplitter und
das lange Haar den Schock. Andrerseits ist keine positive Evidenz vorhanden,
daß er jemals unter Artilleriefeuer gestanden hat. Möglicherweise ist er lediglich
ein Fanatiker des Wachstums — es gibt so etwas wie Vegetative Hypertrophie.
Ich habe den Eltern gesagt, daß seine Wünsche in dieser Richtung peinlichst
respektiert werden müssen; das ist seine einzige Rettung.
FALL II. Friedrich .. ., neun Jahre. Ließ seit frühester Jugend Symptome von
fälschlich sogenannter „Grausamkeit" erkennen, indem er mit bemerkens-
werter Agilität Fliegen fing und diesen dann die Flügel ausriß. Sodann schritt er
zur Tötung von Vögeln fort, sowie — ein bezeichnender Charakterzug — zum
Zerbrechen von Stühlen. Erst als er die Hauskatze die Treppe hinunterwarf,
begannen seine Eltern zu fürchten, daß hier etwas nicht in Ordnung sei; es ist
außerordentlich zu bedauern, daß sie nicht sogleich einen psychologischen
Experten zu Rate gezogen haben. Denn bis zu diesem Punkt war die Perversion
ja höchst einfach: ein ganz gewöhnlicher Gravitations-Komplex. Doch ein Jahr
oder zwei vor seiner Geburt war eine Tante
von ihm als Augenzeugin mit knapper Not
einer Aeroplan-Katastrophe entgangen, und
daher ist die ganze Idee des Fliegens dem
Unterbewußten des Knaben höchst abstoßend.
Die Fliegen müssen ihrer Flügel beraubt wer-
den; die Vögel, weniger leicht zu verstümmeln,
müssen geradezu den Tod finden. Seine Leiden-
schaft stürzt sich sogar auf Stühle, weil diese
ebenfalls die menschlichen Wesen vor Zu-
bodenfallen bewahren. Eine krankhafte Neu-
gierde seinerseits beharrt auf dem Wunsch, die
Katze aviatische Experimente machen zu lassen.
Darauf aber scheint jedenfalls eine plötzliche
Transferenz ihn in die Richtung der Flagello-
manie gedrängt zu haben. Er peitscht zuerst die
Kinderfrau, Gretchen .. ., welche zusammen-
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