dennoch liebt. Ihm nützt es nichts, die
Herkunft aller Gefühle ableiten zu können;
er verhält sich nicht anders, als wäre er
ahnungslos. Das Leben triumphiert über
den Geist — wiewohl der Geist recht be-
hält. Die andern drei kleineren Erzählun-
gen weichen ein wenig von der Huxley-
schen Norm ab: hier analysieren sich die
Menschen in ihren Schwächen nicht selbst.
Sie werden analysiert durch den Mund
eines Dritten oder durch die Darstellung,
die von ihnen gegeben wird. Dieser Band
bestätigt aufs Neue die eminente, zugleich
intellektuelle und dichtende Potenz dieses
Schriftstellers, dessen Gesamtwerk sich
nachgerade zu einem Kompendium der
Charaktereologie geistig qualifizierter In-
dividualitäten auswächst.
In all diesen Romanen versteht sich die
äußere Existenz der Menschen immer von
selbst. Um so mehr Gelegenheit haben sie,
sich mit ihrer inneren Existenz zu beschäf-
tigen. Aber ein junger englischer Schrift-
steller, I. B. Priestley, zeigt eindringlich,
daß die Norm der bürgerlichen Menschen
nicht ausschließlich von individuellen See-
lenkonflikten leben kann. Seine Menschen
sind vor allem bei der Arbeit zu finden.
Seine „Gesellschaft" ist nicht so fein; sie
ist eine Gesellschaft von Kleinbürgern ver-
schiedenen Grades. Es eint sie, daß sie alle
arbeiten müssen, um leben zu können. Sein
Roman Enge'gasse (übertragen von Paul
Baudisch; S. Fischer Verlag) ist das Epos
vom Alltagsleben der Büromenschen. Diese
Menschen haben nichts anderes miteinander
zu tun, als daß sie täglich in denselben
Räumen miteinander arbeiten. Im übrigen
grenzen sie sich gesellschaftlich streng von-
einander ab. Mit Argwohn nehmen sie
Distanz voneinander; sie haben einen Be-
dacht von komischer Würde. Sie legen
Wert darauf, längst fiktiv gewordene Be-
griffe von soziologischen Rangstufen zu
wahren. Sie bestehen auf einem in seinem
realen Gehalt schon vollkommen zersetzten
Prestige. Sie schleppen den individualisti-
schen Ballast des neunzehnten Jahr-
hunderts in die Nachkriegszeit hinein, ob-
wohl keiner von ihnen die Solidität seiner
inneren und äußeren Verhältnisse wahren
kann. Sie dünken sich als „Charaktere"
und sind doch alle: Menschen der Masse.
Priestley ist ein großer Humorist. Er
sieht und gestaltet die Komik und Tragik
zugleich, die dieser Lebenswiderspruch zwi-
schen Anspruch und Bedeutung in sich
birgt. Priestley witzelt nicht auf Kosten
seiner Figuren. Aber grade, weil er sie
ernst zu nehmen scheint, sind sie komisch,
das heißt, komisch ist nur ihr Anspruch;
im Grunde beweist grade dieser Anspruch
nichts anderes als die absurde Trostlosig-
keit des Lebensleerlaufes, der darin be-
steht, unablässig auf das Leben zu warten.
Dies Kleinbürgertum hat gar keinen Grund
mehr unter den Füßen. All seine Ideo-
logien bleiben im luftleeren Raum hängen.
So ist denn ihr Lebensanspruch vor allem
gekennzeichnet als Lebensangst.
Unter den jüngeren englischen Schrift-
stellern ist Priestley neben Huxley und
Aldington unstreitig eines der bedeutend-
sten Talente. Man hat ihn mit Dickens
verglichen. Dieser Vergleich ist keineswegs
zu gewagt. Er hat alle Chancen, ein
Dickens des zwanzigsten Jahrhunderts zu
werden. Alfred Kantorowicz
Geist und Abenteuer — klingt es
nicht fast wie eine Identität? Der Geist
selber ist ja das ewige Abenteuer! Wer
richtig denkt, antipodisch sieht, auf sich
selber neugierig ist, wer imstande ist, die
scheinbaren Verschwommenheiten des Da-
seins in seinem Gehirn durchzukeltern und
ein traumsicheres Fingerspitzengefühl für
das Wahre zu gewinnen, der kommt zu
einem Erlebnis der Wirklichkeit, das keine
Jacinto-Prärie, kein Karl Mayscher Ur-
wald ersetzen kann. Umgekehrt aber
wird er auch abenteuer-geeigneter. Denn
es ist eine Wahnvorstellung des Bürgers,
daß einem die gebratenen Tauben in den
Mund fliegen und man das Exotische er-
leben kann, ohne selber exotisch zu sein.
Erleben-können folgt aus einem überschärf-
ten Zustand der Bereitschaft, es geschieht
nie unwillkürlich, sondern ist herbeizitiert.
Lytton Strachey, ein Nachdichter und Nach-
genießer der Genies, hat die Männer, in
deren Leben sich Geist und Abenteuer auf
solche Art berührte, gut gewählt: Voltaire,
Stendhal, Shakespeare und der sonderbare
General Gordon. (Nebst minder Wichti-
gen.) Er hat eine wunderbare hirn-roman-
tische Methode: Psychologie durch Beschrei-
bung. So glaubt man kleine Romane zu
verschlingen, während man in Wirklichkeit
große Essays gelesen hat. (S. Fischer Ver-
lag, Berlin.) Dafür allein hätte Strachey
der Stendhal-Orden gebührt. Anton Kuh
154
Herkunft aller Gefühle ableiten zu können;
er verhält sich nicht anders, als wäre er
ahnungslos. Das Leben triumphiert über
den Geist — wiewohl der Geist recht be-
hält. Die andern drei kleineren Erzählun-
gen weichen ein wenig von der Huxley-
schen Norm ab: hier analysieren sich die
Menschen in ihren Schwächen nicht selbst.
Sie werden analysiert durch den Mund
eines Dritten oder durch die Darstellung,
die von ihnen gegeben wird. Dieser Band
bestätigt aufs Neue die eminente, zugleich
intellektuelle und dichtende Potenz dieses
Schriftstellers, dessen Gesamtwerk sich
nachgerade zu einem Kompendium der
Charaktereologie geistig qualifizierter In-
dividualitäten auswächst.
In all diesen Romanen versteht sich die
äußere Existenz der Menschen immer von
selbst. Um so mehr Gelegenheit haben sie,
sich mit ihrer inneren Existenz zu beschäf-
tigen. Aber ein junger englischer Schrift-
steller, I. B. Priestley, zeigt eindringlich,
daß die Norm der bürgerlichen Menschen
nicht ausschließlich von individuellen See-
lenkonflikten leben kann. Seine Menschen
sind vor allem bei der Arbeit zu finden.
Seine „Gesellschaft" ist nicht so fein; sie
ist eine Gesellschaft von Kleinbürgern ver-
schiedenen Grades. Es eint sie, daß sie alle
arbeiten müssen, um leben zu können. Sein
Roman Enge'gasse (übertragen von Paul
Baudisch; S. Fischer Verlag) ist das Epos
vom Alltagsleben der Büromenschen. Diese
Menschen haben nichts anderes miteinander
zu tun, als daß sie täglich in denselben
Räumen miteinander arbeiten. Im übrigen
grenzen sie sich gesellschaftlich streng von-
einander ab. Mit Argwohn nehmen sie
Distanz voneinander; sie haben einen Be-
dacht von komischer Würde. Sie legen
Wert darauf, längst fiktiv gewordene Be-
griffe von soziologischen Rangstufen zu
wahren. Sie bestehen auf einem in seinem
realen Gehalt schon vollkommen zersetzten
Prestige. Sie schleppen den individualisti-
schen Ballast des neunzehnten Jahr-
hunderts in die Nachkriegszeit hinein, ob-
wohl keiner von ihnen die Solidität seiner
inneren und äußeren Verhältnisse wahren
kann. Sie dünken sich als „Charaktere"
und sind doch alle: Menschen der Masse.
Priestley ist ein großer Humorist. Er
sieht und gestaltet die Komik und Tragik
zugleich, die dieser Lebenswiderspruch zwi-
schen Anspruch und Bedeutung in sich
birgt. Priestley witzelt nicht auf Kosten
seiner Figuren. Aber grade, weil er sie
ernst zu nehmen scheint, sind sie komisch,
das heißt, komisch ist nur ihr Anspruch;
im Grunde beweist grade dieser Anspruch
nichts anderes als die absurde Trostlosig-
keit des Lebensleerlaufes, der darin be-
steht, unablässig auf das Leben zu warten.
Dies Kleinbürgertum hat gar keinen Grund
mehr unter den Füßen. All seine Ideo-
logien bleiben im luftleeren Raum hängen.
So ist denn ihr Lebensanspruch vor allem
gekennzeichnet als Lebensangst.
Unter den jüngeren englischen Schrift-
stellern ist Priestley neben Huxley und
Aldington unstreitig eines der bedeutend-
sten Talente. Man hat ihn mit Dickens
verglichen. Dieser Vergleich ist keineswegs
zu gewagt. Er hat alle Chancen, ein
Dickens des zwanzigsten Jahrhunderts zu
werden. Alfred Kantorowicz
Geist und Abenteuer — klingt es
nicht fast wie eine Identität? Der Geist
selber ist ja das ewige Abenteuer! Wer
richtig denkt, antipodisch sieht, auf sich
selber neugierig ist, wer imstande ist, die
scheinbaren Verschwommenheiten des Da-
seins in seinem Gehirn durchzukeltern und
ein traumsicheres Fingerspitzengefühl für
das Wahre zu gewinnen, der kommt zu
einem Erlebnis der Wirklichkeit, das keine
Jacinto-Prärie, kein Karl Mayscher Ur-
wald ersetzen kann. Umgekehrt aber
wird er auch abenteuer-geeigneter. Denn
es ist eine Wahnvorstellung des Bürgers,
daß einem die gebratenen Tauben in den
Mund fliegen und man das Exotische er-
leben kann, ohne selber exotisch zu sein.
Erleben-können folgt aus einem überschärf-
ten Zustand der Bereitschaft, es geschieht
nie unwillkürlich, sondern ist herbeizitiert.
Lytton Strachey, ein Nachdichter und Nach-
genießer der Genies, hat die Männer, in
deren Leben sich Geist und Abenteuer auf
solche Art berührte, gut gewählt: Voltaire,
Stendhal, Shakespeare und der sonderbare
General Gordon. (Nebst minder Wichti-
gen.) Er hat eine wunderbare hirn-roman-
tische Methode: Psychologie durch Beschrei-
bung. So glaubt man kleine Romane zu
verschlingen, während man in Wirklichkeit
große Essays gelesen hat. (S. Fischer Ver-
lag, Berlin.) Dafür allein hätte Strachey
der Stendhal-Orden gebührt. Anton Kuh
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