autarkisch, dem Ausland mit Bewußtsein verschlossen und mit ihm unbekannt.
Das Volk Frankreichs lebt in glücklicher Wohlhabenheit von seinen Renten, es
ist darum konservativ wie jedes Rentnervolk. Es stehen dort immer einige Inter-
essen zusammen gegen alle keimende Reform — das Interesse irgendeiner Land-
schaft z. B. — Darum geschehen hier Änderungen immer per saltum, auf revolu-
tionärem Weg.
Einiges an dieser Theorie ist richtig, und die gegenwärtigen Ereignisse in
Frankreich und Deutschland wie der Zustand der französischen Politik scheinen
sie zu bestätigen. In Frankreich schichten sich die Parteien, von den Kommunisten
abgesehen, noch nicht nach den Klassen; der doktrinäre Idealismus beharrt hier
auf seinen unverrückten festen Grundlagen, welche ihm die große Revolution ge-
geben, und er steht den Interessen nicht selten entgegen. Der Franzose kämpft
für — eigentlich gegen — Ideen, genau gesagt, gegen die Gespenster vergangener
Ideen, die sich in den Lebenden verkörpern. Der Deutsche hingegen kämpft in
einer Interessengruppe unter der Fahne einer Idee. Schon an der deutschen
Proporzwahl zeigt sich, wie wenig doch der Politiker als Individuum, als Mensch,
in der deutschen Politik zählt. In Frankreich ist Painleve von Leuten gewählt
worden, denen er sich niemals gezeigt hat, auf das bloße Ansehen seines Namens
hin ist er „ihr Abgeordneter" geworden. Kein deutscher Bauer aber wählt jemals
anders als aus dem Gesichtspunkt der Verheißungen seiner gebundenen Liste.
Das soll nicht heißen, daß wirtschaftliche und sonstige Interessen nicht ihre
bedeutende Rolle in der französischen Politik spielten. Aber die Wirtschaft wirkt
hier mehr negativ, sie verhindert, sie schafft die Reformen nicht. In Frankreich
haben die Ideen ihre Verwirklichung überlebt oder doch wenigstens die Tat-
bestände, durch welche sie entstanden und zu ihrer Zeit notwendig gewesen sind.
Im XIX. Jahrhundert kämpfte man noch überall für und gegen das Königtum
und die Kirche, zu einer Zeit, wo die soziale Fragestellung „Kapital oder Arbeits-
kraft" schon weit über die Frage: Monarchie oder Republik, Klerus usw. hinaus-
gewachsen war. Und noch heute, im XX. Jahrhundert, ist das hier so, obgleich es
eigentlich keine Royalisten und auch keinen Pfarrer mehr gibt, der etwas im Staat
zu sagen hätte. Es geht immer noch um die „Republik" und um ihre „Rettung",
um den „Zusammenschluß" der Republikaner, und dabei ist die Republik seit
Jahrzehnten nicht mehr in Frage gestellt. Nur die Parteien benennen sich gern
noch nach ihrer heroischen Zeit der Kämpfe gegen einen damals mächtigen
Gegner, sie alle sind „Linke". Die einzigen unter ihnen, welche die Bezeichnung
„Republikanisch" abgeschafft haben, sind die schlicht „Radikalen", die So-
zialisten und natürlich die Kommunisten. Die linke Fahne „tarnt" also die heutige
Rechte der Kammer.
Begreiflicherweise verstehen die Ausländer nichts von dieser paradoxen Innen-
politik. Auch sind die Worte selber veraltet — das Adjektivum „radikal" ist zu
einem Substantiv ohne einen Anhalt geworden, es hat auch noch die Entwicklung
— in diesem Falle leider nicht Beharrlichkeit — seines Gegenstandes mitgemacht.
Radikal heißt heute geradezu: zugehörig zu einer Mitte/partei, weil die Bedingun-
gen des doktrinären Wahlkampfes auch weiterhin die fortgesetzte Anlehnung an
die linken Nachbarn erfordern. Man muß also zum Beispiel einen Deutschen
jedesmal darüber aufklären, daß ein „Radikalsozialist" in Frankreich nur ein
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Das Volk Frankreichs lebt in glücklicher Wohlhabenheit von seinen Renten, es
ist darum konservativ wie jedes Rentnervolk. Es stehen dort immer einige Inter-
essen zusammen gegen alle keimende Reform — das Interesse irgendeiner Land-
schaft z. B. — Darum geschehen hier Änderungen immer per saltum, auf revolu-
tionärem Weg.
Einiges an dieser Theorie ist richtig, und die gegenwärtigen Ereignisse in
Frankreich und Deutschland wie der Zustand der französischen Politik scheinen
sie zu bestätigen. In Frankreich schichten sich die Parteien, von den Kommunisten
abgesehen, noch nicht nach den Klassen; der doktrinäre Idealismus beharrt hier
auf seinen unverrückten festen Grundlagen, welche ihm die große Revolution ge-
geben, und er steht den Interessen nicht selten entgegen. Der Franzose kämpft
für — eigentlich gegen — Ideen, genau gesagt, gegen die Gespenster vergangener
Ideen, die sich in den Lebenden verkörpern. Der Deutsche hingegen kämpft in
einer Interessengruppe unter der Fahne einer Idee. Schon an der deutschen
Proporzwahl zeigt sich, wie wenig doch der Politiker als Individuum, als Mensch,
in der deutschen Politik zählt. In Frankreich ist Painleve von Leuten gewählt
worden, denen er sich niemals gezeigt hat, auf das bloße Ansehen seines Namens
hin ist er „ihr Abgeordneter" geworden. Kein deutscher Bauer aber wählt jemals
anders als aus dem Gesichtspunkt der Verheißungen seiner gebundenen Liste.
Das soll nicht heißen, daß wirtschaftliche und sonstige Interessen nicht ihre
bedeutende Rolle in der französischen Politik spielten. Aber die Wirtschaft wirkt
hier mehr negativ, sie verhindert, sie schafft die Reformen nicht. In Frankreich
haben die Ideen ihre Verwirklichung überlebt oder doch wenigstens die Tat-
bestände, durch welche sie entstanden und zu ihrer Zeit notwendig gewesen sind.
Im XIX. Jahrhundert kämpfte man noch überall für und gegen das Königtum
und die Kirche, zu einer Zeit, wo die soziale Fragestellung „Kapital oder Arbeits-
kraft" schon weit über die Frage: Monarchie oder Republik, Klerus usw. hinaus-
gewachsen war. Und noch heute, im XX. Jahrhundert, ist das hier so, obgleich es
eigentlich keine Royalisten und auch keinen Pfarrer mehr gibt, der etwas im Staat
zu sagen hätte. Es geht immer noch um die „Republik" und um ihre „Rettung",
um den „Zusammenschluß" der Republikaner, und dabei ist die Republik seit
Jahrzehnten nicht mehr in Frage gestellt. Nur die Parteien benennen sich gern
noch nach ihrer heroischen Zeit der Kämpfe gegen einen damals mächtigen
Gegner, sie alle sind „Linke". Die einzigen unter ihnen, welche die Bezeichnung
„Republikanisch" abgeschafft haben, sind die schlicht „Radikalen", die So-
zialisten und natürlich die Kommunisten. Die linke Fahne „tarnt" also die heutige
Rechte der Kammer.
Begreiflicherweise verstehen die Ausländer nichts von dieser paradoxen Innen-
politik. Auch sind die Worte selber veraltet — das Adjektivum „radikal" ist zu
einem Substantiv ohne einen Anhalt geworden, es hat auch noch die Entwicklung
— in diesem Falle leider nicht Beharrlichkeit — seines Gegenstandes mitgemacht.
Radikal heißt heute geradezu: zugehörig zu einer Mitte/partei, weil die Bedingun-
gen des doktrinären Wahlkampfes auch weiterhin die fortgesetzte Anlehnung an
die linken Nachbarn erfordern. Man muß also zum Beispiel einen Deutschen
jedesmal darüber aufklären, daß ein „Radikalsozialist" in Frankreich nur ein
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