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Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt — 12.1932

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White, Wlliam C.: Die moskowitische Studentin
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https://doi.org/10.11588/diglit.73728#0403
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Die
Moskowitische
Studentin
Von
Willia m C. White
Der Professor betrat das Katheder
im großen Hörsaal der Ersten
Moskauer Hochschule. Hinter ihm war
der Kopf Lenins in Riesenausmaßen
auf die Wand gemalt. Das Gemurmel
in den gedrängten Reihen der Zuhörer
verstummte. „Genossen, wir schlossen
das letztemal mit . . begann er —
aber er kam nicht weiter.
Ein Mädchen in einer schwarzen
Lederjacke, einem roten Kopftuch und
mit einer dicken Aktentasche unter dem


M. Houth

Arm, stürzte vom äußeren Gang her auf das Katheder. „Verzeihung, Genosse",
unterbrach sie den Professor, „Genossen", wandte sie sich mit schriller Stimme
an die Studenten, „diese Vorlesung kann heute nicht gehalten werden. Die Be-
sprechung der Komsomoltsy, die für heute abend angesagt war, ist auf diese
Stunde verlegt worden." Da und dort wurde Beifall geklatscht, und alles lief
auseinander.
„Das war die Adamowa", sagte mein Freund, der Student Woronow. „Sie
ist eine Bauerntochter, die Schriftführerin der Komsomoltsy, des Bundes Junger
Kommunisten. Sie haben ebensoviel — nein, sogar mehr Macht in der Hoch-
schule als die Professoren. Wieder eine Besprechung, Teufel, diese ewigen Be-
sprechungen! Ich begreife nicht, wie sie es aushält — sie ist bei allem dabei.
Dies ist ihr letztes Jahr. Warum gehen immer die häßlichen Frauen in die Politik?
Ist das in Amerika auch so? Diese riesigen Hände und Füße! Sehen Sie dagegen
die kleine Blondinka dort unten, sie ist eine ,Parteilose'. Sie ist genau so rührig
wie die Adamowa.. . nur in anderen Dingen." Er kniff ein Auge zu.
Auf der Ersten Moskauer Hochschule werden Politik, Volkswirtschaft, die
Rechte, Sprachen und Literatur gelesen. Auf der Zweiten die Naturwissenschaften.
Die Erste Hochschule hat zweitausend Studenten. Seite an Seite sitzen da acht-
zehnjährige Burschen und Mädchen, frisch aus der Provinz, Schutzleute, die von
ihren Vorgesetzten für die Hochschulbildung ausgewählt sind, vierzigjährige
Fabrikarbeiter, die für mehrere Jahre Urlaub haben, und die begabteren Schüler
aus den Mittelschulen Moskaus. Russen und dunkelhäutige Usbeken aus
Turkestan, Juden und Georgier, grüblerische Mongolen und lachende Ukrainer
studieren da zusammen unter dem Wahlspruch: „Die Wissenschaft gehört dem
Arbeiter."
Sie können froh sein, daß sie drin sind — die zehnfache Anzahl wurde ab-
gewiesen. Die Zulassung wird abhängig gemacht vom Erfolg einer Prüfung

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