Nebentisch. „Es tut mir leid, daß ich weder Brot noch ,Kolbasa' (Wurst) habe.
Wir nennen ,Kolbasa' Studententrost."
Die Adamowa nickte, lachte aber nicht. „Sie finden wohl, daß es schwer ist,
so zu leben? Gewiß — wir sind zusammengepfercht! Aber daran sind wir vom
Dorfe her gewöhnt. Wir waren elf zu Hause und lebten in einer Kate von zwei
Zimmern. Die alten Leute schliefen auf dem Ofen und wir Kinder auf dem Fuß-
boden. Das Wohnen hier kostet uns einen Rubel im Monat — die meisten
Arbeiten machen wir doch in der Bücherei.. . Das Schlimmste ist unsere Gesund-
heit — wir sind alle arm. Wir versuchen für alle Studenten eine regelmäßige ärzt-
liche Untersuchung durchzuführen. Tuberkulose . . . und im Winter haben wir
alle Mandelentzündung. Aber Sie sehen doch, wie sie sich zur Universität drängen.
Bildung gibt es bei uns umsonst, für jeden!"
„Aber, wenn nun Ihre gesellschaftliche Herkunft nicht den Anforderungen
entspricht ?"
„Natürlich, für solche . . . für die Ausbildung unserer Gegner haben wir
keinen Platz. In Amerika schließen Sie bestimmte Klassen von der Universität
aus, dasselbe tun wir auch. Bei uns ist die Erziehung fürs Volk, nicht für die
satte Oberschicht. Ich kenne die amerikanische Erziehung. Ich habe darüber
gelesen. Wir in Rußland haben die Erziehung für die Massen. Sehen Sie mich
an, wäre ich jemals vor der Revolution an die Moskauer Universität gekommen?
Ich bin in einem karelischen Dorf aufgewachsen, weit nördlich von Leningrad,
hundert Meilen von der Eisenbahn. Wir waren elf Kinder. Mein Vater hatte
sechs Morgen Land; das war alles. Ich weiß, was es heißt: hungern und entbehren
zu müssen. Als die Revolution ausbrach, war ich zu jung, um zu verstehen, was
das bedeutet. Mit dreizehn lief ich von Hause weg — im ganzen Dorf war nichts
zu essen. In Moskau gab es nicht viel mehr. Ich trat dem Bunde Junger Kommu-
nisten bei. Ich agitierte unter den Soldaten an der Front. Dann, mit sechzehn
Jahren, heiratete ich einen Soldaten. Er starb, ich heiratete einen anderen. Es
blieb uns Mädchen nichts anderes übrig; heiraten bedeutete damals: zu essen
haben. In Moskau bedeutete es: ein Zimmer haben. Später verließ er mich.
Dann setzte ich meine Agitation in einer Leningrader Fabrik fort und ging abends
zur Schule. Und nun bin ich doch hier an der Moskauer Hochschule. Wie ist es
mit den Studentinnen bei Ihnen, interessieren sie sich für Arbeits- und Wirt-
schaftsfragen? Interessieren sie sich für Politik und den Aufstieg ihres Landes?
Hier sind wir so eifrig. Ich arbeite bei den ,Komsomoltsy', ich bin Vertreterin
der Hochschule im Moskauer Sowjet. Drei Abende in der Woche unterrichte ich
eine Arbeitergruppe im Lesen und Schreiben . . ."
„Aber wie ist es mit dem Studium?"
„Ich studiere natürlich, aber unsere Hochschulen sind nicht nur dazu da,
unsere soziale Arbeit ist ein Teil unserer Ausbildung."
„Und die Prüfungen?"
„Die sind meist mündlich. Der Professor stellt eine oder zwei Fragen über
seine Vorlesung, und das ist alles . . ."
Woronow kam herein. Es war nach elf Uhr. „Komm herunter zu uns. Ein
Genosse lernt dein schreckliches Englisch und möchte wissen, wie man das ,th'
ausspricht!"
* * *
Drei Monate später hing quer über der Halle der Universität eine rote Fahne
mit der Aufschrift: „Jeder Student wird angewiesen, dem Studentenkomitee
jeden Mitstudenten namhaft zu machen, dem aus wichtigen Gründen das Wahl-
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Wir nennen ,Kolbasa' Studententrost."
Die Adamowa nickte, lachte aber nicht. „Sie finden wohl, daß es schwer ist,
so zu leben? Gewiß — wir sind zusammengepfercht! Aber daran sind wir vom
Dorfe her gewöhnt. Wir waren elf zu Hause und lebten in einer Kate von zwei
Zimmern. Die alten Leute schliefen auf dem Ofen und wir Kinder auf dem Fuß-
boden. Das Wohnen hier kostet uns einen Rubel im Monat — die meisten
Arbeiten machen wir doch in der Bücherei.. . Das Schlimmste ist unsere Gesund-
heit — wir sind alle arm. Wir versuchen für alle Studenten eine regelmäßige ärzt-
liche Untersuchung durchzuführen. Tuberkulose . . . und im Winter haben wir
alle Mandelentzündung. Aber Sie sehen doch, wie sie sich zur Universität drängen.
Bildung gibt es bei uns umsonst, für jeden!"
„Aber, wenn nun Ihre gesellschaftliche Herkunft nicht den Anforderungen
entspricht ?"
„Natürlich, für solche . . . für die Ausbildung unserer Gegner haben wir
keinen Platz. In Amerika schließen Sie bestimmte Klassen von der Universität
aus, dasselbe tun wir auch. Bei uns ist die Erziehung fürs Volk, nicht für die
satte Oberschicht. Ich kenne die amerikanische Erziehung. Ich habe darüber
gelesen. Wir in Rußland haben die Erziehung für die Massen. Sehen Sie mich
an, wäre ich jemals vor der Revolution an die Moskauer Universität gekommen?
Ich bin in einem karelischen Dorf aufgewachsen, weit nördlich von Leningrad,
hundert Meilen von der Eisenbahn. Wir waren elf Kinder. Mein Vater hatte
sechs Morgen Land; das war alles. Ich weiß, was es heißt: hungern und entbehren
zu müssen. Als die Revolution ausbrach, war ich zu jung, um zu verstehen, was
das bedeutet. Mit dreizehn lief ich von Hause weg — im ganzen Dorf war nichts
zu essen. In Moskau gab es nicht viel mehr. Ich trat dem Bunde Junger Kommu-
nisten bei. Ich agitierte unter den Soldaten an der Front. Dann, mit sechzehn
Jahren, heiratete ich einen Soldaten. Er starb, ich heiratete einen anderen. Es
blieb uns Mädchen nichts anderes übrig; heiraten bedeutete damals: zu essen
haben. In Moskau bedeutete es: ein Zimmer haben. Später verließ er mich.
Dann setzte ich meine Agitation in einer Leningrader Fabrik fort und ging abends
zur Schule. Und nun bin ich doch hier an der Moskauer Hochschule. Wie ist es
mit den Studentinnen bei Ihnen, interessieren sie sich für Arbeits- und Wirt-
schaftsfragen? Interessieren sie sich für Politik und den Aufstieg ihres Landes?
Hier sind wir so eifrig. Ich arbeite bei den ,Komsomoltsy', ich bin Vertreterin
der Hochschule im Moskauer Sowjet. Drei Abende in der Woche unterrichte ich
eine Arbeitergruppe im Lesen und Schreiben . . ."
„Aber wie ist es mit dem Studium?"
„Ich studiere natürlich, aber unsere Hochschulen sind nicht nur dazu da,
unsere soziale Arbeit ist ein Teil unserer Ausbildung."
„Und die Prüfungen?"
„Die sind meist mündlich. Der Professor stellt eine oder zwei Fragen über
seine Vorlesung, und das ist alles . . ."
Woronow kam herein. Es war nach elf Uhr. „Komm herunter zu uns. Ein
Genosse lernt dein schreckliches Englisch und möchte wissen, wie man das ,th'
ausspricht!"
* * *
Drei Monate später hing quer über der Halle der Universität eine rote Fahne
mit der Aufschrift: „Jeder Student wird angewiesen, dem Studentenkomitee
jeden Mitstudenten namhaft zu machen, dem aus wichtigen Gründen das Wahl-
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