Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt — 12.1932

DOI Artikel:
Tandler, Julius: Sport und Arzt
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.73728#0575

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Sport und Arzt
Von
Professor D r. Julius Tandler (Wien)
Arbeit und Sport gehen auf zwei Urtriebe der organischen Materie zurück. Der
Erhaltungstrieb hat allmählich zur Arbeit, die in allen ihren Komplikationen
und Organisationen doch nur der Erhaltung des Individuums, der Art, der Gesell-
schaft dient, der Bewegungs- oder Spieltrieb, die körperliche Offenbarung instink-
tiver oder seelischer Euphorie, hat beim Menschen zum Tanz, zum Sport, zur
Körperkultur geführt. Kulturelle Einstellung, Betonung des Rationalismus und des
abstrakten Denkens haben das eine Mal die Geistigkeit in den Vordergrund gescho-
ben, den Körper asketischer Vernachlässigung überantwortet, das andere Mal die
plötzliche Wiederentdeckung des Körpers veranlaßt, die da und dort zur Über-
schätzung des physischen Seins, zur Muskelandacht, zum Bizeps-Übermut ent-
artet ist.
So hat man vor beiläufig vierzig Jahren auf dem Kontinent den Körper wieder
entdeckt, seine Betätigung zu verstehen und zu würdigen begonnen, hat aus der
anfangs belächelten oder bestaunten Körperkultur der Privilegierten — Massen-
Erscheinung und Massengut der Allgemeinheit gemacht. Und heute läuft eine hohe
Welle von Sportbegeisterung und Sportbetätigung über die Menschheit. Heute hat
man erkannt, daß Körperkultur die Komplementärfarbe der Geisteskultur darstellt.
Aller Sport geht auf Beanspruchung zurück. Beanspruchung der Muskulatur und
des Knochens, Beanspruchung des Gefäß- und Nervensystems. In der glücklichen
Zusammenfügung dieser Beanspruchungsfähigkeiten am Individuum liegt seine
Sporteignung. Sie ist — wie jede Eignung — angeboren, also konstitutionell, und
dementsprechend unabänderlich; und so lebt und wirkt der Mensch nicht nur unter
dem geistigen und körperlichen Fatum seiner Entstehung, sondern übt auch Sport
mit den ihm von demselben Fatum vorausbestimmten Erfolg. Was wir Training
nennen, ist Einfluß auf die wandelbare Kondition und nur mitbestimmend in der
Wahl des Raumes, der Zeit, der Methode.
Schon aus dieser Analyse gehen Art und Grenzen ärztlicher Wirksamkeit auf
den Sport hervor, wenn wir von jener therapeutischen Betätigung absehen, die
Unfall, Überbeanspruchung und Abnützung von der ärztlichen Kunst heischen. Sie
sind gewiß bedeutungsvoll, doch treffen sie nicht das Prinzipielle. Der Massensport
hat unzweifelhaft die Massensportunfälle und die gesteigerte Beanspruchung der
therapeutischen Medizin zur Folge. Wer kennt nicht die saisongemäße Aufeinander-
folge der Sportunfälle — im Sommer die Kletter- und Motorradunfälle, im Winter
die Skiunfälle! Hier handelt es sich um Krankheit, deren Ätiologie der Sport ist,
so wie es sich bei den Arbeitsunfällen um ähnliche Erscheinungen auf anderer
ätiologischer Basis handelt. Viel interessanter, viel entscheidender, aber auch viel
schwieriger zu umfassen und darzulegen ist die Wechselbeziehung zwischen Sport
und Medizin auf dem prinzipiellen Gebiete. Man spricht so gern davon, daß der
Sport gesund ist, daß er ertüchtigt — sicher richtig! Ist er aber für alle gesund und
ist jeder Sport für jeden gesund — und wo liegt die Grenze zwischen Gesundheits-
förderung und Gesundheitsgefährdung?
Die vieltausendfältige Multiplikation von Förderung oder Gefährdung, wie sie
der Massensport heute mit sich bringt, erhebt die Einflußnahme des Arztes weit über
das Niveau des Therapeuten, der an sich wohl interessanten, aber das Schicksal des
organischen Kapitals nicht bestimmenden Schädigung, ja, Vernichtung des einzelnen,

2

397
 
Annotationen