seiner Unübersichtlichkeit, erhält die Klassen im Gleichgewicht. Man arbeitet
weiter, deshalb, weil der Deutsche arbeitssam ist. Nur die persönliche Freiheit, die
individuelle Initiative des Franzosen, der sich in jedem Falle als ein Ich für sich
selber fühlt, setzen hier nichts mehr in Tätigkeit. Im genauen Sinn des Wortes
sind Deutschlands Bewohner in ihrer überwiegenden Mehrheit Proletarier: die
Zahl der Empfänger staatlicher Unterstützungen aus irgendwelchem Rechtsgrund
ist erschreckend. Das Vermögen der Nation geht zu Milliarden in diesen Unter-
stützungen auf. Hier liegt ein Staatssozialismus vor, so gründlich eingeführt in den
Volkskörper und übrigens so sehr genehm dem Volksgeist, daß er nicht mehr zu
entfernen sein wird.
Diese Tatsache schwächt sachlich und geistig den Willen des einzelnen. Das
Geld, das man von irgendwoher bekommt oder verdient, wird einem sogleich
abgenommen vom Leben selbst, dessen Lasten gleichmäßig gestiegen sind wie
seine Genüsse. Die Massen wollen wie überall in der Welt vor allem leben; das
Bürgertum aber scheint auf alle seine höheren Ziele verzichtet zu haben: nicht
wenige Angehörige der einst herrschenden Klassen haben es aufgegeben, ihre
ehemalige soziale Stufe wieder einzunehmen; die Deklassierten sind zahlreich,
junge Leute aus guter Familie werden zu Volk, geistig wie wirtschaftlich, und sie
entfalten dabei eine Art von Bolschewistenstolz, erzeugt aus Protest, Enttäuschung,
Hoffnungslosigkeit. In dieser Richtung vor allem weht in Deutschland eine andere
Luft als bei uns, wo, nach meinen Beobachtungen mindestens, der eingewurzelte
Spartrieb nicht nachgelassen hat.
Diese unzähligen neuen Abenteurer Deutschlands achten nicht leicht die alten
Spielregeln der bürgerlichen Gesinnung. Die Sowjetherrschaft hat für sie an-
scheinend keine Schrecken. Deutschland hat sozusagen in der ersten Nachkriegs-
zeit eine bemerkenswerte Menge des bolschewistischen Bazillus geschluckt, sich
damit freilich zugleich gegen die Auswüchse der Revolution immunisiert. Ich
knüpfe an meine Bemerkung an: für den Franzosen ist Rußland ein phantastisches
Reich der sozialen Experimente, für Deutschland einfach ein Nachbar.
Die gewisse äußere Härte muß also nicht unser Urteil trüben; wir wissen schon,
daß, gemäß Nietzsche, hier ein Chaos im Inneren steckt. Das erklärt vielleicht eine
noch heute andauernde seltsame Anziehungskraft der französischen Kultur auf den
Deutschen: in dieser Schulung sucht er in seinem dunklen Triebe oftmals Stärkung
gegen all sein Unbestimmbares, Wildes, Maßloses. Der Deutsche erinnert — so-
weit man von ihm im Singular reden kann — an Pirandellos „Sechs Personen
suchen einen Autor": Die sechs Leute sind da, es fehlt ihnen bloß die Gestalt.
Dem deutschen Geist ist dieser furchtbare Mangel nicht unbekannt: lebendig und
voller Lebenskraft sucht er nach seinem Ausdruck und findet ihn nicht. Sich zu
gestalten, bedarf er der Hilfe von außen, seine chronische Unfähigkeit dünkt ihn
tragisch, er weiß wirklich nicht, von welcher Art seine nächste Verwirklichung sein
wird. Wir wissen es ebensowenig, und eine solche beunruhigend-unbegrenzte
Möglichkeit ist, wie man begreifen wird, gelegentlich etwas unbequem.
Widerspruchsvoll in sich, sucht Deutschland so triebhaft nach einem Ausweg
aus dem Chaos, das es gleichwohl nicht hergeben möchte in dem Gefühl seines
Reichtums an Zukünftigem. Die Wiederherstellung, der harte Versuch der sittlichen
Ordnung war vielleicht die Hauptbedeutung des Brüning-Kurses, und der Wider-
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weiter, deshalb, weil der Deutsche arbeitssam ist. Nur die persönliche Freiheit, die
individuelle Initiative des Franzosen, der sich in jedem Falle als ein Ich für sich
selber fühlt, setzen hier nichts mehr in Tätigkeit. Im genauen Sinn des Wortes
sind Deutschlands Bewohner in ihrer überwiegenden Mehrheit Proletarier: die
Zahl der Empfänger staatlicher Unterstützungen aus irgendwelchem Rechtsgrund
ist erschreckend. Das Vermögen der Nation geht zu Milliarden in diesen Unter-
stützungen auf. Hier liegt ein Staatssozialismus vor, so gründlich eingeführt in den
Volkskörper und übrigens so sehr genehm dem Volksgeist, daß er nicht mehr zu
entfernen sein wird.
Diese Tatsache schwächt sachlich und geistig den Willen des einzelnen. Das
Geld, das man von irgendwoher bekommt oder verdient, wird einem sogleich
abgenommen vom Leben selbst, dessen Lasten gleichmäßig gestiegen sind wie
seine Genüsse. Die Massen wollen wie überall in der Welt vor allem leben; das
Bürgertum aber scheint auf alle seine höheren Ziele verzichtet zu haben: nicht
wenige Angehörige der einst herrschenden Klassen haben es aufgegeben, ihre
ehemalige soziale Stufe wieder einzunehmen; die Deklassierten sind zahlreich,
junge Leute aus guter Familie werden zu Volk, geistig wie wirtschaftlich, und sie
entfalten dabei eine Art von Bolschewistenstolz, erzeugt aus Protest, Enttäuschung,
Hoffnungslosigkeit. In dieser Richtung vor allem weht in Deutschland eine andere
Luft als bei uns, wo, nach meinen Beobachtungen mindestens, der eingewurzelte
Spartrieb nicht nachgelassen hat.
Diese unzähligen neuen Abenteurer Deutschlands achten nicht leicht die alten
Spielregeln der bürgerlichen Gesinnung. Die Sowjetherrschaft hat für sie an-
scheinend keine Schrecken. Deutschland hat sozusagen in der ersten Nachkriegs-
zeit eine bemerkenswerte Menge des bolschewistischen Bazillus geschluckt, sich
damit freilich zugleich gegen die Auswüchse der Revolution immunisiert. Ich
knüpfe an meine Bemerkung an: für den Franzosen ist Rußland ein phantastisches
Reich der sozialen Experimente, für Deutschland einfach ein Nachbar.
Die gewisse äußere Härte muß also nicht unser Urteil trüben; wir wissen schon,
daß, gemäß Nietzsche, hier ein Chaos im Inneren steckt. Das erklärt vielleicht eine
noch heute andauernde seltsame Anziehungskraft der französischen Kultur auf den
Deutschen: in dieser Schulung sucht er in seinem dunklen Triebe oftmals Stärkung
gegen all sein Unbestimmbares, Wildes, Maßloses. Der Deutsche erinnert — so-
weit man von ihm im Singular reden kann — an Pirandellos „Sechs Personen
suchen einen Autor": Die sechs Leute sind da, es fehlt ihnen bloß die Gestalt.
Dem deutschen Geist ist dieser furchtbare Mangel nicht unbekannt: lebendig und
voller Lebenskraft sucht er nach seinem Ausdruck und findet ihn nicht. Sich zu
gestalten, bedarf er der Hilfe von außen, seine chronische Unfähigkeit dünkt ihn
tragisch, er weiß wirklich nicht, von welcher Art seine nächste Verwirklichung sein
wird. Wir wissen es ebensowenig, und eine solche beunruhigend-unbegrenzte
Möglichkeit ist, wie man begreifen wird, gelegentlich etwas unbequem.
Widerspruchsvoll in sich, sucht Deutschland so triebhaft nach einem Ausweg
aus dem Chaos, das es gleichwohl nicht hergeben möchte in dem Gefühl seines
Reichtums an Zukünftigem. Die Wiederherstellung, der harte Versuch der sittlichen
Ordnung war vielleicht die Hauptbedeutung des Brüning-Kurses, und der Wider-
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