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Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt — 12.1932

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als die Zeit, in der zu leben eine Freude
war. Die Erinnerung an 1900 ist noch
zu frisch, um zeitlos zu wirken. Wie
sollte man das Jahr 1905 lieben, das
Jahr des russisch-japanischen Krieges?
Und 1906, das jahr von Algesiras?
1908, das Jahr, dessen Drohungen uns
Jules Romains ins Gedächtnis zurück-
ruft (Casablanca, Bulgarien, Bosnien
und die Herzegowina)? Und 1911, das
Jahr von Agadir?
Die Zeitlosigkeit beginnt ihren
Krebsgang im Jahre 1900. Deshalb
läßt Alfred Pabst seine wundervolle
Dreigroschenoper um 1880 spielen,
im victorianischen London.
Diese Rückkehr zu 1900 ist ein
Weltphänomen. In England der unge-
heure Erfolg von Noel Cowards Ca-
valcade, wo man die Soldaten der Kö-
nigin vorbeisprengen sieht. Das Publi-
kum hat sich an Rückblicken berauscht.
In Frankreich der Riesenerfolg von
Paul Morands Buch 1900. Ist es eigent-
lich ein Buch oder eine Bitte um Ent-
schuldigung? Oder der Versuch einer
Heil-Impfung? Neugierde des Histo-
rikers? Aber warum grade diese Neu-
gierde und keine andere? Und das ge-
rade im Moment, in dem die Weltkrise
und Weltverarmung und die Traurig-
keit der Menschen und Städte Paul
Morands Aesthetik und Moral des
üppigen Gedeihens derart Lügen stra-
fen? Ein Historiker, der sich erinnert,
oder ein Sigambrer, der sich beugt, und
zwar wütend beugt; er wirft dem Jahre
1900 Dinge vor, die ihm entschieden
als die verletzendsten erscheinen: er
nennt es „die Zeit der Dummheit und
der schmutzigen Füße". Würde er diese
Epoche so hassen, wenn er nicht Angst
hätte, sie neu auferstehen zu sehen?
Später dann, wenn dieser Historiker
Ouvert la nuit, Ferme la nuit, L'Europe
galante an ihre Stelle setzt (diese
Bücher beherrschen das Jahr 1920 für
den Soziologen, wenn nicht für den
Aestheten), wird man sehen, welch tolle
Hoffnungen der Weltmann Morand

nährte: die Hoffnung auf eine ver-
brüderte, durch das Flugzeug zusammen-
gerückte Welt, die Hoffnung auf einen
neuen, durch das Reisen klüger ge-
wordenen, von den romantischen
Krankheiten des Herzens durch einen
klareren Verstand und einen geschulte-
ren Willen geheilten Menschen; die
Hoffnung auf einen weiteren Blick
durch einen intensiveren Geschmack des
Geistes an den Dingen. Wie viele noch
ungesehene Länder! Wie viele noch un-
geküßte Frauen! Wie viele Sensationen
bleiben noch auszukosten! Und immer
schnellere Autos und ein immer wach-
sender Komfort, von dem eine immer
breitere Masse profitiert! Aber selbst-
verständlich: man muß reich sein! Und
man muß rationalisieren! Man muß
New York bewundern! Ach! Welch
schöne Zeit, dieses eiserne Zeitalter!
Aus! Morand selbst glaubt nicht
mehr daran. Sogar die Amerikaner
sprechen von einfachem Leben. Man
weiß soviel wie nichts von dem Schick-
sal, dem die Menschheit entgegengeht;
ein gesteigertes Glück dürfte es schwer-
lich sein. Der Mensch traut den Ma-
schinen nicht mehr, die er nicht zu
meistern verstanden hat. Morand gibt
zu, daß 1900 wenn auch dümmer als
1932, so doch jedenfalls glücklicher war.
Die Traurigkeit der Welt ist es, die den
fröhlichen Reisenden, der Morand einst
war, in einen Historiker verwandelte.
Die Mode in der Literatur
Nun wären wir bei der Literatur
angelangt. Trotz des Siegeszuges von
„Lady Chatterley" bin ich überzeugt,
daß der literarische Erotismus abgewirt-
schaftet hat. Man weiß jetzt, daß man
auf diesem Gebiet schreiben kann, was
man will. Die Brutalität des Ausdrucks
beweist gar nichts mehr für den Mut des
Autors, der sich seiner bedient; und das
nimmt der Sache viel von ihrem
Reiz. Außerdem sind die Männer der
sexuellen Freiheit müde und die Frauen
erst recht. Grelle Lichter und grelle
Worte sind der Liebe selten zuträglich;
sie können es auch nicht lange bleiben,

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