Stimmen. De Valera trat zurück. Er wurde auf dem Posten des Präsidenten von
Griffith ersetzt. Die Engländer verließen Irland. Es entstand der irische
Freistaat.
Man hätte meinen können, daß von diesem Augenblick an Bomben und Schuß-
waffen aus der irischen Geschichte verschwinden würden! Die demokratischen
Überzeugungen de Valeras würden seine Unterwerfung unter den Willen des irischen
Parlaments bewirken! Aber neben seinen demokratischen Überzeugungen besaß de
Valera ein wildes Temperament, einen ungezügelten Ehrgeiz, einen ungeheuren
Glauben an seinen Genius. De Valera organisierte einen neuen bewaffneten
Aufstand, diesmal gegen die Regierung Griffiths und Collins', gegen Männer,
mit denen er „durch die Erinnerung eines langjährigen Freiheitskampfes" eng ver-
bunden war.
Hier verschwinden die letzten Spuren von Vernunft in dieser an sich so irratio-
nalen Geschichte. Die demokratischen Überzeugungen und die heiligen Erinne-
rungen wurden sofort und gründlich vergessen. Der Kampf zwischen de Valera und
der Regierung Griffith-Collins wurde genau so geführt wie ihr früherer gemeinsamer
Kampf gegen die Engländer. Bomben und Schußwaffen, Plünderungen und Hin-
richtungen waren die Methoden des Kampfes; eine vollständige Demoralisation des
Landes war die Folge. „De Valera ist vollkommen verrückt geworden", sagte Griffith
von seinem ehemaligen Freund. Darin lag sicherlich ein gewisses Quantum Wahr-
heit. De Valera predigte ein organisiertes Chaos, sein Befehl lautete, systematisch
Brücken, Züge, Bahnhöfe zu sprengen, Mitglieder der Regierung und ihre An-
hänger zu erschießen. Seine Befehle wurden ausgeführt, und Hunderte angesehener
Leute wurden erbarmungslos niedergemacht. Eines der ersten Opfer des neuen
Bürgerkrieges war der; Nationalheld Collins. Dieser nächste Freund de Valeras, der
einst seine Flucht aus dem Gefängnis organisierte, kam in einen Hinterhalt und
wurde von den Valeristen getötet. Die Regierung antwortete mit Massenerschie-
ßungen ihrer ehemaligen Freunde. Griffith, der Begründer der Sinnfein-Bewegung,
starb an einem Herzschlag.
Nun gab es aber keine ausländischen Eroberer, denen man die Schuld zuschieben
konnte. Die Engländer konnten aus der Ferne die Ereignisse beobachten und sich
der ironischen Worte Gladstones von der „doppelten Dosis Erbsünde", die den
Irländern zuteil wurde, erinnern.
Die Truppen der irischen Regierung blieben Sieger. De Valera streckte die Waffen.
Die Regierung konnte sich nicht entschließen, den ehemaligen Präsidenten hinzu-
richten, er erhielt ein Jahr Gefängnis. Dann trat eine Spaltung innerhalb seiner
eigenen Anhänger ein; er gründete eine neue Partei. Von der terroristischen Praxis
ging er über zur demokratischen Theorie und wartete auf den gesetzlichen Sieg bei
den Wahlen. Ein vernünftiger Entschluß, aber eigentlich hätte man ihn auch etwas
früher fassen können: der zweite Bürgerkrieg war unverhältnismäßig sinnloser als
der erste.
Nun hat das irische Volk bei den letzten Wahlen für die Valeristen gestimmt.
Der Weg zum Programm de Valeras führte augenscheinlich über das Programm
Griffiths — in der Theorie waren beide im Recht. Aber es ist nicht ganz sicher, ob
man sich von den Anhängern der Föderation mit der Autonomie und von den An-
hängern der Unabhängigkeit mit einer Föderation loskaufen kann — das Leben
hat auch diese weitverbreitete Ansicht revidiert. Was weiter wird, wissen wir nicht.
Die Vernunft siegt immer — „la raison finira par avoir raison" — sagen die Fran-
zosen. Schlimm ist nur, daß die Vernunft es nicht eilig hat.
(Deutsch von Woldemar Klein)
620
Griffith ersetzt. Die Engländer verließen Irland. Es entstand der irische
Freistaat.
Man hätte meinen können, daß von diesem Augenblick an Bomben und Schuß-
waffen aus der irischen Geschichte verschwinden würden! Die demokratischen
Überzeugungen de Valeras würden seine Unterwerfung unter den Willen des irischen
Parlaments bewirken! Aber neben seinen demokratischen Überzeugungen besaß de
Valera ein wildes Temperament, einen ungezügelten Ehrgeiz, einen ungeheuren
Glauben an seinen Genius. De Valera organisierte einen neuen bewaffneten
Aufstand, diesmal gegen die Regierung Griffiths und Collins', gegen Männer,
mit denen er „durch die Erinnerung eines langjährigen Freiheitskampfes" eng ver-
bunden war.
Hier verschwinden die letzten Spuren von Vernunft in dieser an sich so irratio-
nalen Geschichte. Die demokratischen Überzeugungen und die heiligen Erinne-
rungen wurden sofort und gründlich vergessen. Der Kampf zwischen de Valera und
der Regierung Griffith-Collins wurde genau so geführt wie ihr früherer gemeinsamer
Kampf gegen die Engländer. Bomben und Schußwaffen, Plünderungen und Hin-
richtungen waren die Methoden des Kampfes; eine vollständige Demoralisation des
Landes war die Folge. „De Valera ist vollkommen verrückt geworden", sagte Griffith
von seinem ehemaligen Freund. Darin lag sicherlich ein gewisses Quantum Wahr-
heit. De Valera predigte ein organisiertes Chaos, sein Befehl lautete, systematisch
Brücken, Züge, Bahnhöfe zu sprengen, Mitglieder der Regierung und ihre An-
hänger zu erschießen. Seine Befehle wurden ausgeführt, und Hunderte angesehener
Leute wurden erbarmungslos niedergemacht. Eines der ersten Opfer des neuen
Bürgerkrieges war der; Nationalheld Collins. Dieser nächste Freund de Valeras, der
einst seine Flucht aus dem Gefängnis organisierte, kam in einen Hinterhalt und
wurde von den Valeristen getötet. Die Regierung antwortete mit Massenerschie-
ßungen ihrer ehemaligen Freunde. Griffith, der Begründer der Sinnfein-Bewegung,
starb an einem Herzschlag.
Nun gab es aber keine ausländischen Eroberer, denen man die Schuld zuschieben
konnte. Die Engländer konnten aus der Ferne die Ereignisse beobachten und sich
der ironischen Worte Gladstones von der „doppelten Dosis Erbsünde", die den
Irländern zuteil wurde, erinnern.
Die Truppen der irischen Regierung blieben Sieger. De Valera streckte die Waffen.
Die Regierung konnte sich nicht entschließen, den ehemaligen Präsidenten hinzu-
richten, er erhielt ein Jahr Gefängnis. Dann trat eine Spaltung innerhalb seiner
eigenen Anhänger ein; er gründete eine neue Partei. Von der terroristischen Praxis
ging er über zur demokratischen Theorie und wartete auf den gesetzlichen Sieg bei
den Wahlen. Ein vernünftiger Entschluß, aber eigentlich hätte man ihn auch etwas
früher fassen können: der zweite Bürgerkrieg war unverhältnismäßig sinnloser als
der erste.
Nun hat das irische Volk bei den letzten Wahlen für die Valeristen gestimmt.
Der Weg zum Programm de Valeras führte augenscheinlich über das Programm
Griffiths — in der Theorie waren beide im Recht. Aber es ist nicht ganz sicher, ob
man sich von den Anhängern der Föderation mit der Autonomie und von den An-
hängern der Unabhängigkeit mit einer Föderation loskaufen kann — das Leben
hat auch diese weitverbreitete Ansicht revidiert. Was weiter wird, wissen wir nicht.
Die Vernunft siegt immer — „la raison finira par avoir raison" — sagen die Fran-
zosen. Schlimm ist nur, daß die Vernunft es nicht eilig hat.
(Deutsch von Woldemar Klein)
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