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Der Querschnitt — 12.1932

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Hartmann, Hans: Die Ehe in der Krise des Protestantismus
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https://doi.org/10.11588/diglit.73728#1016

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der Reformation verschuldet, indem er Philipp von Hessen eine Frau zur linken Hand
gestattete. Einem Mann aus dem Volke hätte er sie nie erlaubt. Sollte aber das
humane Motiv, das Luther da beseelte, nicht doch auch heute gelten dürfen? Und
nicht nur für Fürsten ?
Es liegt in der Linie protestantischen Empfindens, alles viel innerlicher zu fassen
und dafür zu sorgen, daß das auch im Eherecht zur Geltung kommt. Heute ist es
doch so, daß in Ehescheidungsprozessen die häßlichsten Dinge ans Tageslicht ge-
zerrt oder auch eigens arrangiert werden können. Ein Fall, für tausend andere: eine
anfänglich gute und harmonische Ehe zerbricht bald, da der Mann Gefallen an anderen
Frauen findet. Die eigene Frau „bietet" ihm nichts mehr. Um sich selbst ein gutes
Gewissen zu schaffen, veranlaßt er sie, ihre eigenen Wege zu gehen. Zögernd,
versuchsweise tut sie es und findet einen fein empfindenden Mann, der sie über
sich selbst emporhebt. Ihr offizieller Mann bittet sie, da ihm die Bindung mit einer
anderen wünschenswert erscheint, mit den Kindern sein Haus zu verlassen. Sie tut
es, geht sogar in einen öden Beruf, schließlich kommt es zur Scheidung. Der Mann,
unritterlich, behauptet, er habe von nichts gewußt, und das Gericht, auf formal-
juristischem Standpunkt stehend, muß beide „schuldig" scheiden und damit die
Zukunft der Frau verderben. Welche Sinnlosigkeit liegt darin! Könnten sich nicht
gute, ehrliche, religiöse Menschen aufmachen, um den Betroffenen die ganze Qual
zu ersparen ? Es wäre — auch juristisch — ein Leichtes, es fehlt nur die Elastizität,
der Wille zur Neuformung, zur Anerkennung der Lebensnotwendigkeiten. Für ihn
können wir kämpfen: mit offenem Visier und einer reinen, unbeugsamen Ent-
schlossenheit.
Juristische Begriffe, wie die der ehelichen Pflicht, die den ganzen Menschen ent-
würdigen, müssen fallen. Was nicht frei und in vollendeter Hingabe gegeben ist,
was verlangt und abgezwungen werden muß, ist unheilig. Dafür sollten alle religiös
Empfindenden Verständnis haben.
Kommen wir einmal hierin weiter, dann wird die Ehescheu verschwinden, und
die vielen Männer werden nicht mehr wie heute Angst haben, geheiratet zu werden.
Das frohe Wagnis gegenseitiger Beglückung wird wieder Ereignis werden, und selbst
die Angst vor kommenden Erlebnissen mit Dritten wird verschwinden. Man wird
sie vom andern ohne Eifersucht und Neugier — ruhig oder unruhig — austragen
lassen. Ist die neue Bindung auf die Dauer stärker, so wird der Verzicht nötig, denn
die Flamme der Liebe kann nicht künstlich angefacht werden.
Aber wo bei reiferen Menschen reine Beglückung ist, wird es oft gar nicht zu
solchen Seitenerlebnissen kommen. Wie man sich beglückt, darüber sollte freilich
alle Anweisung überflüssig werden. Je weniger Van de Velde, um so schöner die Ehe.
Man findet am besten selber den Weg zum Neuen, Besonderen, Einmaligen.
Freilich: es gehört Kühnheit und viel soziale Verantwortung zu dieser Sicht in
die Dinge. Es tauchen neue Fragen am Horizonte auf. So die Kinderfrage. Kinder-
verhütung, zu der sich die englischen Kirchen jetzt schon bekennen, wird bald im
ganzen Protestantismus als erlaubt gelten. Es muß aber auch mit Verallgemeine-
rungen aufgeräumt werden, als ob Kinder aus getrennten Ehen nicht gedeihen könn-
ten. Kann nicht das Kind, das gelegentlich seinen Vater oder seine Mutter sieht,
viel tiefere Eindrücke von ihnen und ihrer Art empfangen ? Man richte kein Dogma
auf! Das Leben selbst in seiner unerhörten Tiefe und Fülle erzieht die Menschen.
Wir können sie nicht nach unserer pädagogischen Grundsätzen konstruieren. Aber
wir können ihnen helfen, aus Leid und Glück, aus Tragik und Sehnsucht den Weg
zu finden in eine neue Form des Seins, das die größere Erfüllung und den reineren
Sinn in sich birgt.

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