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Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt — 12.1932

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Weisl, Wolfgang von: Querschnitt durch ein okkultes Zeitalter
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https://doi.org/10.11588/diglit.73728#1242

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der Tisch wirklich getanzt hat, daß die Konnersreutherin wirklich fastet, daß der
Weißenberg wirklich heilt?"
Er fragt, wenn er schwindelgeübten Kartenschlägerinnen nachläuft, wenn er zu
modischen Astrologen geht, oder wenn er Hanussens in Motorjachten oder Renn-
wagen einlädt: „Sag', ist das wahr? Gibt es da Kräfte, die anders sind als die, an die
man mich glauben lehrte, die Elektronen und Kraftfelder . . .?"
Denn das ist es, was am modernen Okkultismus unseres Europas so wichtig, so
entscheidend ist: die Menschen, die sich nach dem Okkulten drängen, wie die
Motten nach dem Licht, haben wahnsinnige, unfaßbare Angst davor. Sie wollen
nicht hören, daß die Erscheinungen echt sind, sondern sie wollen hören; „Sei ruhig!
Es gibt nichts außer der heiligen, einzigen Materie, außer Geld und Macht und
Organisation und deinem Körper." Würde nämlich auch nur ein einziges dieser
Phänomene, über die man spricht und schreibt und streitet, und an die der Europäer
von 1932, Krisenausgabe, doch nicht glaubt, würde es wahr sein . . . dann wäre
dadurch zweierlei dargetan, was nicht in den rein egoistischen Lebensplan unserer
Zeitgenossen paßt:
Erstens: unsere Zeit hat — seit Lessing und Voltaire — die Bibel zum alten
Eisen geworfen. Zuerst sagte der Europäer, die Moral und Ethik der Bibel sei
erhaben, göttlich, die Wunderfabeln in ihr allerdings seien Pfaffenbetrug und
Kindermärchen, und der Gebildete müsse den wahren Kern der Religion aus den
läppischen Märchen herausschälen. Dann kam der zweite Schritt: wenn die eine
Hälfte der Bibel — die „Wunder" — erlogen sind, ist es nur logisch, auch die andere
Hälfte, die biblische Ethik, als Betrug, Opium fürs Volk, Erfindungen einer Priester-
bande anzunehmen. Und so ging die ganze Bibel den Weg, den ihre Wunder ge-
gangen waren: sie wurde vergessen. Die modernen Europäer können sich nicht
rühmen, auch nur einmal in ihrem Leben die Bibel vom Anfang bis zum Ende
gelesen zu haben, ja, ich möchte wetten, daß in Berlin sich nicht einmal zehn von
hundert finden, die auch nur die fünf Bücher Mosis ein einziges Mal im Leben vom
Anfang bis zum Ende durchgelesen hätten.
Zeigt sich nun aber, daß Wunder von der Art — wenn auch nicht von dem
Umfang und von der Erhabenheit, wie sie die Bibel und die religiösen Schriften
anderer Völker berichten, wirklich geschehen können, heute in unserer Mitte ge-
schehen, in Konnersreuth oder in Lourdes oder in Poitiers — dann hieße das, daß
diese wunderbaren-verwunderlichen Wundergeschichten der Heiligen Schriften
nicht einfach Dokumente menschlicher Dummheit und unmenschlichen Schwindels
sind, wie unsere Zeitgenossen in stolzer Anbetung eigenen Verstandes und in maß-
loser Unterschätzung unserer Ahnen glauben und lehren. Dann würde ein Loch
in der Kontinuität menschlicher Geschichte ausgefüllt, und der kleine Herr Vlcek
in Prag oder die hysterische Hexe Frieda Weißl in Graz, Rudi Schneider in Paris
und Maria Silbert — sie alle erhielten eine höhere Aufgabe; an ihnen demonstriert
die Weltgeschichte, daß in allen Menschen verborgene, also „okkulte" Kräfte
rudimentär vorhanden sind, die bei einigen, besonders begabten, seltenen Menschen
sich mehr entwickeln können — so wie jeder Mensch die Muskeln an der Ohr-
muschel rudimentär hat, während nur wenige damit wackeln können.
Gibt es solche rudimentäre, seltene Seelenkräfte, dann ist verständlich, daß sie
sich ohne „Übung", ohne „Training" ebensowenig entwickeln können, wie man
ohne „Übung" Triolen am Klavier spielen kann, obwohl doch die Fingermuskeln
jedes Menschen dazu imstande wären. Und dann wird verständlich, warum alle
Religionen Schulen und Lehrer haben, die der Erweckung dieser schlummernden
Kräfte dienen, von Tibet und den Senussis bis zu den Kabbalisten und den Schülern

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