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Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt — 12.1932

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Grossmann, Rudolf: Besuchein der vierten Dimension
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https://doi.org/10.11588/diglit.73728#1278

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und die mühsam von den Wärtern niedergerungen werden, kehren wieder.
Zwischen diesem behexten Volk steht der Meister mit seinen siebzig Jahren, wie
ein gutmütiger Bäckermeister, was Robustes aus seiner Feldwebelzeit in den alten
Knochen. Er hält sie im Zaum und weiß die Geister, die immer wieder in sie
fahren, mit herrischer Geste zu vertreiben. Er allein steht während der ganzen
Andacht, die diese Ekstasen auslöst.
Der Raum ist gesteckt voll. Vor den Andächtigen ein langer Tisch, darauf eine
Bibel und ein Kruzifix. Daneben ein Podium mit Musikkapelle, die Choräle into-
niert. Der Meister tritt vor, stützt sich auf das Evangelium Johannis und hält eine
kurze Ansprache. Er betont, daß er auf kirchlichem Boden stehe, und murmelt
ein Gebet.
Vor dem Tisch, den Anwesenden zugewendet, sitzen seine Medien, deren
Geister er schon bezwungen hat (Medium ist eigentlich ein falscher Ausdruck,
denn er verwirft jeglichen Spiritismus als schwarze Magie). Am selben Tisch
sitzen die sogenannten Führer. Die Andächtigen sind meist arme Leute aus
Berlin N oder O mit durchfurchten Wangen und Werktagsgesichtern, Männer
und Frauen und Mädchen krankhaften Aussehens.
Schon nach den ersten Musikklängen suchen die Geister, die er seit Jahrzehnten
bekämpft, in der Masse ihre Opfer. Man hört plötzlich ein schweres Atmen und
Stöhnen. Ein Mann hebt die Hand, und sein Kopf sinkt im selben Augenblick
an die Stuhllehne. Er läuft blaurot an und stößt kehlige Laute aus. Der Meister
oder ein Füherr, manchmal auch ein junges Mädchen mit markiertem Busen in
straff sitzendem Sweater eilen in die Reihe, woraus die Laute kommen, um zu
helfen. Sie legen eine Hand auf die Stirn des Leidenden, die andere auf die Herz-
gegend, und in wenigen Minuten erwacht der Besessene mit einem tiefen Atem-
zug, seine Augen divergieren nicht mehr, schauen verklärt und dankbar den
Meister an, und er meldet seine Anwesenheit im Diesseits mit einem erleichterten
„Gott zum Gruß".
Dieses Schauspiel wiederholt sich bei anderen ungefähr alle fünf Minuten in
der drei Viertelstunden dauernden Andacht. Während die bösen Geister wie
reißende Wölfe die Versammelten anfallen, sprechen andauernd in ekstatischem
Ton die bezwungenen Geister aus den Medien, die der Meister auf folgende Weise
erweckt: Er tritt auf eines der Medien zu, das aufsteht, sichtlich wächst sein Vo-
lumen, und er meldet den Geist Nebukadnezars, Kaiser Wilhelms oder Napoleons
an, dem er jeweils nur sechs Minuten Sprechzeit einräumt. Was sie in der Ekstase
hervorstoßen, gleicht einem wüsten Durcheinander von kirchlichem Gesabber
und sozialen Vorwürfen. Sie reden sich immer mehr in ihre traumartigen Ekstasen
hinein. Automatisch geht es weiter ohne Ende. Schon naht der Meister mit der
Uhr in der Hand, stellt sich vor sie hin, und sie finden überraschenderweise einen
schnellen Schluß, der jedesmal in eine Hymne an den Meister endet, der ihnen die
Brücke zu Gott wird.
Er drückt dem Nebukadnezar die Hand, der mit dem bekannten Gurgelton
ausatmet und nach dem Krampfzustand seine normale Fassung wiedergewinnt.
Solches wiederholt sich bei all den historischen Persönlichkeiten, die der Reihe
nach vorgestellt werden und sprechen. Dann tritt eine Pause ein, während der
ich mich mit dem Meister unterhalte.

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