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Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt — 12.1932

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Aldanov, Mark A.: Hindenburg in der Pariser Wochenschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.73728#0128

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Das Alte erweist sich auch noch im Neuen. Als Beispiel könnte die Ex-
plosion des Expreßzuges F D 43 dienen, die am 9. August 1931 bei der
Station Jüterbog erfolgte. Die Explosion des Zuges ist natürlich das Neue,
— wann wurden denn im früheren Deutschland Eisenbahnzüge in die Luft
gesprengt ? Hier ist aber auch „Ewig-Deutsches" : Zwölf Minuten nach der
Katastrophe erschienen von den Bahnhöfen Luckenwalde und Jüterbog vier
Rettungszüge mit Ingenieuren, Ärzten, Arbeitern und Krankenschwestern,
als ob sich alle diese Menschen eigens in Luckenwalde und in Jüterbog ver-
sammelt hätten in der Annahme: Wird nicht heute nachts ein Zug hier in
der Nähe explodieren ?
Im amtlichen Bericht war zu lesen: Die flatdfrop^e erfolgte beim ^tito-
meterftein 60,7 um 21 U6r 42% Minuten.
Wie kann ein solches Land zugrunde gehn ?
Die Wohnung Clemenceaus in der rue Franklin.
Sie kenne ich nicht nur von der Leinwand her.
Während einer Periode von 40 Jahren wurde in dieser Wohnung direkt oder
indirekt französische Geschichte, oft aber auch Weltgeschichte gemacht. Der erste
Eindruck: bescheiden lebte dieser berühmte Mensch. Dreieinhalb Zimmer im Hof,
allerdings mit einem kleinen Garten. Möbel, wie man sie auch bei eingesessenen
Bürgern findet: geruhsame Ledersessel, ein roter Teppich im Arbeitszimmer, schön
gearbeitete Bücherregale, Bilder von Monet (wahrscheinlich vom Künstler geschenkt,
der Clemenceaus nächster Freund war); außerdem noch einige andere wertvolle alte
Sachen. Immerhin, die Wohnung hat ihren Stil.
Am Kopfende des Sterbebetts hängt ein Telefon ; in den Jahren 1917—1919
wurde mit Hilfe dieses Telefons Geschichte gemacht. Hier liegt auch ein Browning
— sein ganzes Leben war Clemenceau in Gefahr. Auf dem Tisch liegen Gänsekiele.
Bis an sein Lebensende wollte er von Stahlfedern und Füllfederhaltern nichts wissen.
Mit Gänsekielen schrieb auch der „Kommunist" Anatole France. Es ist wohl kaum
möglich, daß ein Mensch, der Gänsekiele benutzt, Bolschewik ist.
Im Arbeitszimmer steht der, aus Photographien allen bekannte, Tisch in Huf-
eisenform, der nach einem Modell angefertigt wurde, das Clemenceau selbst aus
Pappkarton geschnitten hatte. In den letzten Jahren arbeitete der Alte nicht mehr
im Arbeitszimmer, sondern im Schlafzimmer. Warum? Eine Erklärung gibt uns
die Beschreibung der letzten Tage des Fürsten Nikolai Wolkonski in „Krieg und
Frieden": „Nirgends gefiel es ihm, aber am schlimmsten war es auf dem alten Divan
im Arbeitszimmer. Dieser Divan war ihm schrecklich, wahrscheinlich wegen der
schweren Gedanken, die er gewälzt hatte, während er auf ihm lag. Nirgends war es
gut, am besten war noch die Divanecke hinter dem Piano . . .“
Der alte Misanthrop, der Frankreich gerettet hatte, war sehr unglücklich — er
selbst sagte es. Und die beiden berühmten Menschen, die ich soeben erwähnte, sagten
von sich dasselbe. „Während meines ganzen Lebens hatte ich nicht einen einzigen
glücklichen Tag, nicht einen einzigen!", gestand Anatole France. Und Tolstoi
schrieb: „Der Kalif Abdurachmen hatte in seinem Leben vierzehn glückliche Tage,
aber ich hatte wohl nicht so viele." M. Aldanov

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