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Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt — 12.1932

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Lernet-Holenia, Alexander: Über sogenannte Anglomanie in Berlin
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https://doi.org/10.11588/diglit.73728#0142

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sehe, daß aus ihr eine Erbschaft für einen bloß angenehmen und guten Lebensstil
nicht resultiert. Was der Berliner von uns andern, vor allem von den Engländern,
in dieser Beziehung lernen sollte, wäre in erster Linie dieses, daß sein „Tempo"
vor der Wohnungstür ebenso zurückzubleiben hätte, wie es vor den Wohnungs-
türen des ganzen übrigen Auslandes zurückbleibt. Man kann eben nicht gesittet
und stilvoll leben, wenn man, wie der Berliner es meist tut, auch abends in der
Familie, in Gesellschaft oder in Vergnügungslokalen immer noch in einem
Tempo weiterlebt wie tagsüber in einer Fabrik. Die Engländer waren ja womöglich
noch erfolgreicher als die Deutschen, aber nicht einmal in ihren Geschäften hatten
sie je wirkliches „Tempo". Kein Engländer „arbeitet durch", wenn die Zeit zu
dinieren, Weekend zu halten oder Sport zu treiben gekommen ist. Kein Eng-
länder läßt sich vom Geschäft oder vom Rhythmus des Geschäftes vergewaltigen.
Es ist dilettantisch, sich von solchen Dingen vergewaltigen zu lassen. Das Geschäft
ist für den Engländer da, nicht der Engländer für das Geschäft. Und es behauptet
auch kein Londoner, etwa mit Vergnügen ein Großstädter zu sein. Ein Londoner
wohnt meist eine Stunde weit von London auf dem Lande und fährt nur zur
Stadt, weil es so sein muß, allein er schätzt die Stadt nicht als solche, er bildet sich
auch nichts auf seine Städtischkeit ein — jeder Berliner aber ist stolz darauf, Groß-
städter zu sein und ein scheußliches Ziegelmeer zu bewohnen, während der Lon-
doner zwischen den Stachelbeerhecken seines von der Stadt möglichst fernen
Gartens, den er selber zieht, am glücklichsten ist.
Der Berliner ist eben von ganz primitiver Naivität in bezug auf gewisse Er-
rungenschaften der Zivilisation, die ihm noch neu sind, während der Engländer
längst damit vertraut und nicht im geringsten mehr so stark davon beeindruckt ist.
Den Engländern nachahmen heißt also letzten Endes nichts, als sich den Weg zur
eigenen Zivilisation abzukürzen und die zivilisatorischen Kinderkrankheiten ver-
meiden, in die der Deutsche, mehr aber noch der Amerikaner, sonst täglich mehr
verfällt.
Kurz, man glaube es mir als einem Österreicher, einem Bürger also desjenigen
Landes, in dem, auf Kosten der Expansion und Aktivität, das Kulturelle und das
Zivilisatorische der ganzen letzten Jahrhunderte zusammenströmte: die Imitation
eines hochstehenden Nachbarn ist immer noch besser als ein ganz falsches Be-
harrenwollen auf eigener Unfertigkeit und in eigener Unsicherheit, die in Berlin,
in bezug auf das, was man von Berlin aus, den Engländern absehen will, nun ein-
mal da ist. Die englischen Anzüge und die englische Lebensführung sind nun
einmal die besten der Welt, ebenso wie andererseits die deutsche Chemie und die
deutsche Armee die besten der Welt gewesen sind. Jedes Land hat eben seine
eigenen Vorteile und kann, ja soll in bezug auf diese Vorteile von den andern
Ländern imitiert werden und andere Länder imitieren. Es vergibt sich dadurch
nicht das Geringste. Wenn wir's aber nicht tun, wenn wir nichts voneinander
lernen wollen, so werden wir eben immer bloß Deutsche und bloß Engländer
bleiben, ohne jemals außerdem auch noch zu Europäern zu werden.

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